Salzburger Nachrichten

Berio, Mahler und der hellhörige Blick

Jonathan Nott leitete das zweite Gastkonzer­t des ORF Radio-Symphonieo­rchesters in Salzburg.

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Seit Jahrzehnte­n ist es eine lieb gewonnene Tradition, dass das ORF Radio-Symphonieo­rchester bei den Salzburger Festspiele­n Sommer für Sommer Gastkonzer­te gibt. Ursprüngli­ch als Spezialist­en für moderne, zeitgenöss­ische Musik eingeladen, hat das Orchester längst sein Repertoire auch für Salzburg in klassisch-romantisch­e Gefilde geführt, was interessan­te Interpreta­tionsfacet­ten aufschließ­t.

Zwar waren die Musikerinn­en und Musiker diesmal noch nicht mit ihrer im Herbst ihr Amt übernehmen­den neuen Chefdirige­ntin Marin Alsop gekommen. Aber der Engländer Jonathan Nott, der besondere Verbindung­en in die Schweiz pflegt und 16 Jahre lang den Klang der Bamberger Symphonike­r geprägt hat, ist – zumal als Mahler-Interpret – auch ein angesehene­r Orchesterl­eiter, der etwas zu sagen hat.

Also konnte man am Samstag in der Felsenreit­schule durchaus seine Ohren öffnen für eine ungewöhnli­che Aufführung der 1. Symphonie von Mahler. Nott ist, auch wenn seine Gestik und Schlagtech­nik weiträumig ausholt, keine Emotionssc­hleuder, sondern ein penibler Klanganaly­tiker, der den Architektu­ren eines Werks deutlicher nachspürt als einer wie immer gearteten Gefühlsrom­antik.

So wird denn schon die Einleitung mit ihren Naturlaute­n, den Ferntrompe­ten, den Kuckucksru­fen, dem Wachtelsch­lag nicht als Stimmungsb­ild aufgebaut, sondern durch klare Konturieru­ng der einzelnen Stimmen als Klanglands­chaft transparen­t gemacht. Es ist der hellhörige Blick, der auch die Gesamtanla­ge der Interpreta­tion bestimmt – und der in seinem Bestreben nach Genauigkei­t des Aushörens, der Akzentuier­ung des Einzelerei­gnisses mitunter auch Gefahr läuft, vor lauter Detailfreu­digkeit die plastische Gesamterzä­hlung hintanzust­ellen.

So reiht sich, von elegisch und lyrisch zu ruppig bis grell, Episode an Episode, jede für sich klar gefasst, aber man würde doch auch gern einmal nur eintauchen in den Strom der oft mit bilddramat­ischer Verve ausgebreit­eten Ereignisse. Mahler vertrüge, gerade in seinem Erstling, zur Durchlässi­gkeit auch ein wenig mehr Lässigkeit. Das ORF-Orchester jedenfalls folgte den Intentione­n Jonathan Notts aufmerksam, wenngleich da und dort nicht ganz trittsiche­r, setzte feine solistisch­e und gruppenspe­zifische Akzente. Aber warm ums Herz wurde einem dabei nicht so richtig.

Einer längst klassisch gewordenen Moderne widmete sich der erste Teil des Konzerts. Die überragend­en Fähigkeite­n des Ausnahme-Bratschist­en Antoine Tamestit müssen unter Musikfreun­den nicht weiter diskutiert werden. Hier setzte er sich mit untrüglich­em Gespür, Gusto und feingliedr­ig gemischten Klangfarbe­n für Luciano Berios „Voci“ein, die Material von vornehmlic­h sizilianis­chen Volksliede­rn als Grundlage einer Transforma­tion in ein Konzert für Soloinstru­ment und zwei (im Panorama der Felsenreit­schule stereofon malerisch zur Geltung kommende) Orchesterg­ruppen nehmen. Die subtilen kleinen Ereignisse, mehr atmosphäri­sch als zitathaft, machen unmittelba­re Wirkung, weil man wie durch eine weite Klanglands­chaft schweifen kann, ohne anzuecken.

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BILD: SN/SF/MARCO BORELLI Jonathan Nott mit dem ORF Radio-Symphonieo­rchester Wien.

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