Paul Lendvai wird 90 Jahre alt. Im Interview sagt er, warum die Dummheit auf dem Vormarsch ist und wofür er kämpfen will.
Paul Lendvai wird 90 Jahre alt. Im SN-Interview ordnet die Journalistenlegende den Ibiza-Skandal ein. Er schildert, wieso Deutschland in naher Zukunft Probleme bekommen wird. Und er sagt, für was er noch kämpfen will.
Das Leben von Paul Lendvai hätte kaum bewegter sein können: Als Sohn jüdischer Eltern wurde der gebürtige Ungar 1944 von den Nazis verschleppt. Er überlebte den NSTerror. 1957 floh er nach Wien – und arbeitete später etwa als Wien-Korrespondent für die „Financial Times“oder als Chefredakteur der Osteuropa-Redaktion des ORF.
In wenigen Tagen wird Lendvai 90 Jahre. Doch an den Ruhestand denkt er nicht: Vor Kurzem veröffentlichte er sein neues Buch „Die verspielte Welt“. Und am 29. September, dem Tag der Nationalratswahl, moderiert er das nächste „Europastudio“im ORF. Im SN-Interview schildert er, wieso er sich in Ungarn nicht mehr wohlfühlt, skizziert die Gefahren der Digitalisierung und beschreibt, warum Teppichhändler sinnbildhaft für die Probleme im Journalismus stehen. SN: Herr Lendvai, Ihr Buch hätte „Macht, Mut, Menschen“heißen sollen. Wieso wurde es dann „Die verspielte Welt“? Paul Lendvai: Das hat der Verlag entschieden (lacht). Es ist wohl ein griffigerer Titel. Und es passt zu einem meiner früheren Bücher, zu „Mein verspieltes Land“. SN: Aber „verspielte Welt“wirkt beinahe wie ein Euphemismus für ein Buch, das sich mit ost- und südosteuropäischen Autokraten auseinandersetzt. Es geht darum, dass viele Werte, die als ewig galten – etwa Demokratie oder Toleranz –, schwächer geworden, wenn nicht gar verschwunden sind. Man kann diese Werte wie in einem Casino verspielen. Das sehen Sie gerade in Italien oder den USA. SN: Sie widmen ein Kapitel der „Verführbarkeit der Herrschenden“. Von wem sind Politiker verführbar? Verführt werden sie durch Macht, Geld, Ruhm, Sex. Das ist eine historische Tatsache – und wegen der Kommunikationsrevolution heute vielleicht stärker ausgeprägt als noch vor Jahren. SN: Inwiefern? Es geht mir primär um Politiker, die als Demokraten firmieren – und zum Beispiel einen Wahlsieg nützen, um ihre Macht auszubauen. Da gab es auch früher schlimme Beispiele. Sie müssen sich nur anschauen, wie Mussolini Karriere gemacht hat oder wie Konservative den Weg zu Hitler geebnet haben. Aber heute geht durch Facebook, Twitter, Instagram alles schneller. Vielleicht war auch Roosevelt gefährlich – aber man hat ihn nicht so wahrgenommen wie Trump. Wir haben alle gedacht, das Internet bringt nur Fortschritt. Jetzt sehen wir, was die angeblich sozialen Medien bedeuten. In diesem Sinne ist die Welt instabiler geworden. SN: In Ihrem Buch kritisieren Sie einige Politiker namentlich. Michael Häupl stellen Sie etwa ein schlechtes Zeugnis aus. Ich glaube, ich bin nicht allein, wenn ich sage, dass er den Übergang nicht zeitgerecht und elegant gelöst hat. Zumindest nicht so, wie es Franz Vranitzky oder ein Erwin Pröll gemacht haben. SN: Und warum ist indes Angela Merkel für Sie eine „Ausnahmepersönlichkeit“? Ich bewundere Merkel – trotz all der Kritik, die ich oft in deutschen Zeitungen lese. Sie war und ist eine großartige Politikerin. Das sieht man, wenn man sie mit den möglichen Nachfolgern und auch den Vorgängern vergleicht. Sie wird sicher nicht einen Posten in einem Aufsichtsrat einer russischen Bank annehmen. Ich halte sie für einen Glücksfall für Deutschland. Und nach ihrem Abgang werden wir sehen, was Deutschland für Probleme bekommt – und somit Europa. SN: Ein Gespräch über Politik und Macht kann man dieser Tage kaum führen, ohne über den Ibiza-Skandal zu sprechen. Stimmt es, dass der Tag der schönste Ihres Lebens war? Das habe ich einer ungarischen Zeitung gesagt – in der Hitze des Gefechts (lacht). Die Aussage war wohl übertrieben: Mein schönster Tag war, als ich aus dem Gefängnis gekommen bin oder als Budapest befreit wurde. Aber in der Tat habe ich die Zukunft Österreichs abgeschrieben, da ich geglaubt habe, dass die Regierung noch sehr lange an der Macht bleiben wird. SN: Hat Ibiza viel verändert? Es könnte bald wieder eine türkis-blaue Regierung geben. An sich geht es darum, ob die Politik ihre Schlussfolgerungen zieht. Es ist unglaublich, dass jemand bereit ist, die Medien derart zu erwürgen – und Orbán als Vorbild nennt. Das waren keine persönlichen Marotten. Das hat tiefgehende Strategien und Taktiken angedeutet, die sicher auch andere teilen. SN: Aber müssen wir wirklich Angst vor Orbán-Verhältnissen haben? Ibiza zeigt nur die Gefahr, noch nicht die Wirklichkeit, stimmt. In Ungarn hat es neun Jahre für die beinahe totale Demontage freier Medien gebraucht. Mittlerweile bekommen 90 Prozent der Ungarn ihre Nachrichten nur von kontrollierten Medien. Das ist noch schlechter als in der letzten Phase des kommunistischen Systems. Orbán macht es auch viel raffinierter als Putin oder Lukaschenko. Stellen Sie sich vor, dass jemand, der in den SN, im „Kurier“, in der „Presse“inseriert, einfach keine Kredite mehr bekommt.
Aber Sie haben schon recht: Es ist immer gefährlich, wenn man das Gefühl für die Proportionen verliert. In Österreich gibt es ein Verfassungsgericht, das wirklich unabhängig ist. Das kann man nicht mit Ungarn oder Bulgarien vergleichen. SN: Sie gelten als Kritiker Orbáns. Und dafür sollen Sie sogar stark bedroht worden sein. Die Bedrohung wurde ein wenig dramatisiert. Es gab ein, zwei EMails. Die Kampagne dahinter war aber unglaublich: Es wurde behauptet, ich soll mit den Kommunisten zusammengearbeitet haben. Das wurde zum Glück als dreiste Lüge entlarvt. Übrigens: Dieselben Leute, die mich damals angegriffen haben, haben vor Kurzem geschrieben, dass der Papst debil ist ... Ich bin also in guter Gesellschaft. (lacht) SN: Haben Sie dennoch ein mulmiges Gefühl, wenn Sie nach Ungarn reisen? Orbán ist ein Tyrann – aber ein kluger Tyrann. Mein neues Buch erscheint auch auf Ungarisch, ich gebe Interviews in Ungarn, ich kann ganz normal in ein Kaffeehaus gehen. Dennoch fühle ich mich in Ungarn nicht wohl. Das liegt aber daran, dass ich an Häusern vorbeigehen muss, in denen ich 1944 Schlimmstes erleben musste. SN: Noch zur Medienbranche: Machen Sie sich um den klassischen Journalismus Sorgen – in Zeiten der fortschreitenden Digitalisierung? Ja, ich sorge mich um den Journalismus. Ich sehe die Digitalisierung als unglaubliche Gefahr. Dadurch ist die Dummheit auf dem Vormarsch, die Maßlosigkeit, die Unbeherrschtheit. Wer mit einem Handy umgehen kann, kann Unglaubliches in die Welt setzen. Deshalb bin ich dafür, dass man es kontrolliert – natürlich in Einklang mit den Vorschriften eines Rechtsstaates. SN: Aber wird der Journalismus auf diese Weise überleben können? Die großen Zeitungen werden nicht untergehen, auch wenn die Konkurrenz sicherlich stärker wird. Ich lese selbst jeden Tag viele Zeitungen – und einige davon im Internet. Die Folgen merkt man aber sehr wohl: Früher hatte jede US-Zeitung einen Korrespondenten in Wien. Jetzt lässt sich ein Teppichhändler als Korrespondent akkreditieren. Oder ein Korrespondent muss über fünf oder sechs Länder berichten. SN: Abschließend: Wir erwischen Sie in Ihrer Wohnung in Altaussee. Wird Paul Lendvai jemals den Journalismus links liegen lassen – und nur den Ausblick auf den See genießen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich will ununterbrochen lesen, mit Leuten reden – und das alles benützen, um gegen die Dummheit zu kämpfen. Ein großer Bankier und Finanzjournalist, André Kostolany, hat gesagt: Er möchte auf den Barrikaden im Kampf gegen die Dummheit sterben. Das ist wohl keine schlechte Devise.