Justiz darbt bei Wasser und Brot
Aktenberge, desolate Gefängnisse, Mammutverfahren, überarbeitete Mitarbeiter. In der heimischen Justiz kracht es an allen Fronten. Ein Überblick.
Der Weg durch die Kanzleigänge des Wiener Straflandesgerichts gleicht einem Hindernisparcours. Hohe Aktenstapel türmen sich in jeder Ecke. Das „Landl“braucht dringend mehr Platz und mehr Personal. Eines der wichtigsten Gerichte hierzulande ist am Limit. Gleichzeitig wird die Arbeit für die Justizbehörden nicht weniger. Gerade solch verworrene Verdachtslagen, wie sie derzeit rund um das Ibiza-Video überprüft werden, zeigen, wie wichtig ein effizienter Justizapparat ist. Doch die Realität in den Amtsstuben sieht oft anders aus. Es mangelt schon lang an Geld, Personal und Reformen. Die nächste Regierung hat erheblichen Handlungsbedarf.
Personalmangel
Eines der größten Probleme ist der Personalmangel im sogenannten Fachdienst an den heimischen Justizbehörden. Das sind etwa Kanzleikräfte, Schriftführer oder Aktenzusteller. Sie bilden laut dem Übergangsminister Clemens Jabloner das Rückgrat einer funktionierenden Justiz. 400 solcher Planstellen wurden in den vergangenen Jahren gestrichen. Im Wiener Straflandesgericht gibt es rund 250 Strafprozesse pro Woche. 80 Richtern stehen dabei nicht einmal zwölf Schreibkräfte zur Verfügung. „Bei Weitem nicht alle Verfahren können mit Schriftführern besetzt werden“, sagt Friedrich Forsthuber, Präsident des Landesgerichts. Bei der Staatsanwaltschaft sieht es nicht viel besser aus. „Auch wenn Staatsanwälte am Abend länger arbeiten, kommen die Kanzleien mit den Ausfertigungen oft nicht mehr nach“, sagt Bernd Ziska, einer der Vizepräsidenten der Vereinigung der Staatsanwälte. In Graz, der zweitgrößten Staatsanwaltschaft Österreichs, ist laut Ziska bereits ein Notfallplan in Kraft. Ähnlich wie bei manchen Bezirksgerichten werden weniger wichtige Verfahren zurückgestellt, um wenigstens das Dringendste erledigen zu können. Der Rechtsstaat hängt in der Warteschleife.
Laut der Präsidentin der Richtervereinigung, Sabine Matejka, besteht außerdem ein massiver Mangel an Rechtspflegern, die ebenfalls wichtige Aufgaben an den Gerichten übernehmen und unter anderem in Unterhaltsfällen entscheiden. „Diese Mitarbeiter finden in der Privatwirtschaft bessere Bedingungen vor“, sagt Matejka. Unterhaltsentscheidungen ziehen sich durch den Personalmangel in die Länge. Das bedeutet im schlimmsten Falle erst verspätete finanzielle Unterstützung für Kinder.
Desolate Gerichte
Doch nicht nur in personeller Hinsicht bröckelt das heimische Justizsystem. „Es gibt teilweise hohen Restaurierungsbedarf“, beschreibt die Präsidentin der Richtervereinigung diplomatisch den Zustand so mancher Gerichtsgebäude. „Wir haben natürlich auch neue Bauten“, sagt Matejka. Dafür seien die alten teilweise schwer desolat. Matejka selbst arbeite an einem Bezirksgericht, in dem die alte Sicherheitsschleuse rund alle zwei Wochen defekt sei. Ab Juni stöhnten die Mitar
„Notfallplan bereits in Kraft.“Bernd Ziska, Vereinigung der Staatsanwälte
beiter in den Amtsstuben und Gerichtssälen unter der Hitze.
Ein weiterer Mangel: An den Gerichten und Anklagebehörden fühlt man sich angesichts der Aktenberge teilweise um Jahrzehnte zurückversetzt. Von der schon lang geplanten Digitalisierung ist nur in wenigen Justizämtern etwas zu merken. „Immer wieder kommt die Forderung nach einer schnelleren Umstellung auf den elektronischen Akt, aber es fehlt schlicht das Geld“, sagt Matejka. Während manche Pilotprojekte bereits erfolgreich laufen, muss die digitale Aufrüstung in Zivil- und Strafrechtsverfahren noch warten. Die meisten der Gerichtssäle müssen erst umgerüstet werden. Hinzu kommen noch Schulungen für Mitarbeiter und die notwendige technische Ausstattung. Das einstige Vorzeigeprojekt „Justiz 3.0“stockt gewaltig. Dabei hätte es entscheidende Vorteile. Akten müssten nicht mehr händisch hinund hergekarrt werden. Anwälte, Richter und Staatsanwälte könnten zeitgleich den E-Akt bearbeiten.
Gefängnisse
Auch der Strafvollzug stöhnt unter den derzeitigen Bedingungen. Der neue zuständige Generaldirektor im Justizministerium, Friedrich Koenig, sprach zuletzt angesichts von 9400 Häftlingen von einem „Allzeithöchststand“. Der ehemalige Justizminister Josef Moser musste noch in seiner Amtszeit einräumen, dass Österreichs größtes Gefängnis, die Justizanstalt Josefstadt, um 21 Prozent überbelegt ist.
Übergangsjustizminister Clemens Jabloner geht davon aus, dass im Budget der nächsten Bundesregierung für den Strafvollzug mit einem Mehrbedarf von etwa 62 Millionen Euro zu rechnen ist. Neben Geld für eine geplante Personalaufstockung, um den Betrieb aufrechtzuerhalten (zusätzliche rund 21,8 Millionen Euro), und für notwendige Baumaßnahmen (zusätzliche rund 15,8 Millionen Euro) macht den größten Brocken dersogenannte Maßnahmenvollzug aus (zusätzliche rund 23,8 Millionen). Nicht zurechnungsfähige, geistig abnorme und gefährliche Straftäter, für die in den drei darauf spezialisierten Sonderstrafanstalten kein Platz ist, werden von psychiatrischen Krankenanstalten übernommen. Immer mehr Insassen werden zu immer höheren Tagessätzen von externen Krankenhäusern betreut. Auf Kosten des Justizbudgets. Eine Reform des Maßnahmenvollzugs wurde bereits in den vergangenen Jahren immer wieder gefordert, angekündigt und verschoben.
Die Justizwachegewerkschaft macht ebenfalls Druck. Sie fordert die Umsetzung einer bereits ausformulierten Neuerung des Strafvollzugsgesetzes und der „dringend erforderlichen Verbesserungen im Dienstrecht“. Unter anderem verlangt Albin Simma, Vorsitzender der Justizwachegewerkschaft, dass Hochsicherheitsabteilungen in allen Gefängnissen kommen, mehr Auslandsüberstellung zur Strafverbüßung im Heimatland sowie eine zweite Justizanstalt im Raum Wien.
Strafrecht
Die nächste Regierung wird auch zu entscheiden haben, wie es mit der von Türkis-Blau geplanten Verschärfung des Strafrechts – insbesondere bei Sexual- und Gewaltstraftaten – weitergehen soll. Der umstrittene Vorschlag der ÖVPFPÖ-Regierung blieb aufgrund des Ibiza-Videos in der Begutachtung stecken. Die Übergangsregierung kündigte an, keine ideologischen Entscheidungen treffen zu wollen. Richter, Anwälte und Gewaltschutzorganisationen hatten die Strafverschärfungen kritisiert. Der Grund: Die Strafrahmen seien bereits hoch, würden jedoch oft nicht ausgeschöpft.
Streitereien
Die personellen und finanziellen Engpässe führen auch zu einer schlechten Stimmung innerhalb der Justiz. Zuletzt gipfelten Machtkämpfe zwischen der Korruptionsstaatsanwaltschaft, der Oberstaatsanwaltschaft und der Strafrechtssektion im Justizministerium in gegenseitigen Anzeigen wegen Amtsmissbrauchs und Beweismittelfälschung. Ursache waren Meinungsverschiedenheiten zum bereits jahrelang andauernden Eurofighter-Verfahren. Sektionschef Christian Pilnacek hatte nach langen Ermittlungen erste Ergebnisse gefordert, die Korruptionsstaatsanwaltschaft wiederum wollte mehr Personal in dem komplexen Fall. Mammutverfahren Die Eurofighter-Causa (die erste Anzeige gab es in dieser Sache bereits 2002) ist nur eine der vielen Mammutverfahren, die von der heimischen Justiz derzeit bewältigt werden müssen. Im Buwog-Prozess, unter anderem gegen Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser, verbuchte man im Juni den 100. Verhandlungstag. Eine Ende ist bisher nicht in Sicht.
Doch es gibt auch zahlreiche Verfahren, die nicht in den Schlagzeilen sind und trotzdem viele der ohnehin spärlichen Ressourcen bündeln. Aufgrund der Knappheit verschärft sich die Lage zusätzlich. „Nicht das Urteil, sondern die lange Verfahrensdauer ist im Moment die Strafe“, warnte zuletzt Michael Enzinger, Präsident der Rechtsanwaltskammer Wien drastisch. Sechs Monate Wartezeit auf Protokolle oder sechs bis sieben Monate Wartezeit bis zur Fortsetzung von Verhandlungen seien aktuell die Regel statt die Ausnahme geworden.
„Es fehlt das Geld.“Sabine Matejka, Präsidentin Richtervereinigung