Das Elend der Erntehelfer von Apulien
Rund 45.000 Flüchtlinge arbeiten für Hungerlöhne im Süden Italiens. Nun räumt die italienische Regierung die Barackensiedlungen der vorwiegend afrikanischen Erntehelfer. Die Migranten bleiben sich selbst überlassen.
Der junge Mann mit Baseballkappe und Adiletten sitzt auf seinem grünen Fahrrad und blickt in Richtung Osten. Man hört die Dieselmotoren der Schaufelbagger, die hinter den Baracken angerollt kommen. Polizisten mit Schlagstöcken und Schutzschilden bahnen ihnen den Weg, zwei Männer mit weißen Helmen von der Stromversorgungsgesellschaft kappen die Stromleitungen, die wie dicke Urwaldlianen von Hütte zu Hütte hängen. Feuerwehrleute mit Brecheisen und Motorsäge klopfen an den Baracken an, um die Schlafenden vor der Räumung zu warnen.
Der Mann aus Gambia will seinen Namen nicht sagen, nennen wir ihn Ibrahim. Ibrahim hat eine Traurigkeit in seinen dunklen Augen. „Wenn sie meine Hütte auch kaputt machen, wo soll ich dann hin?“, fragt er. Am Bahnhof von Foggia schlafen? Nach Neapel gehen, nach Rom, nach Frankreich – oder vielleicht zurück nach Afrika? Ibrahim hat keine Ahnung, was er machen soll. Sein Hass bricht sich Bahn. Es gebe doch auch Europäer, die in Afrika arbeiteten. „Wenn die Italiener das hier mit uns machen, gehe ich zurück nach Afrika und töte sie“, sagt Ibrahim.
Apulien, der Absatz des italienischen Stiefels: Es ist Mitte Juli, Beginn der Tomatenernte, geschätzt 45.000 hauptsächlich afrikanische Erntehelfer sind in den Sommermonaten in Apulien, um für Hungerlöhne in der sengenden Hitze die roten Früchte auf den Feldern zu pflücken. Die landen oft zu Schleuderpreisen in Konserven im europäischen Großhandel. In der Provinz Foggia liegt der Weiler Borgo Mezzanone, eine Straßenkreuzung mit Supermarkt, Bushaltestelle und zwei Bars. Zwei Kilometer von der Kreuzung entfernt liegt „la pista“, die an diesem Tag geräumt werden soll. „Die Piste“ist ein ehemaliger Militärflughafen, auf dem die Auswüchse der illegalen Immigration in Italien mit Händen zu greifen sind. Dutzende von Wellblechhütten und aus Sperrmüll zusammengehämmerten Baracken erstrecken sich über die ehemalige Landebahn, die direkt neben einem staatlichen Aufnahmelager liegt. Es riecht nach Aas. An den Rändern dieser süditalienischen Favela häufen sich angekokelte Müllberge. Weil es in den Tagen zuvor geregnet hat, muss man durch stinkenden Schlamm waten, um voranzukommen.
Es gibt improvisierte Supermärkte wie den „Afghan Shop“, betrieben von afghanischen Flüchtlingen. Es gibt Bars, in denen man auch an diesem heißen Sommermorgen Kaffee aus der Thermoskanne bekommt. Dass es sich beim „Family Restaurant“, einer windschiefen Baracke aus Holz, nur um eine Gaststätte handelt, ist unwahrscheinlich. „The food is ready“(Essen ist fertig) ist mit roter Farbe auf die Hüttenwand geschrieben. Das ist der Code dafür, dass im Inneren Prostituierte ihre Dienste anbieten. Ab zehn Euro ist man im Geschäft, auch Italiener kommen. Mehrere solcher Billigbordelle sind über das Ghetto verteilt.
Wenn man die Piste in Richtung Süden weitergeht, wird es unangenehm. Eine Gruppe von Schwarzen steht vor einer Baracke, laute Reggae-Musik kommt aus der Behausung. Die Männer stoßen mit Whiskey an, es ist acht Uhr morgens. Im Inneren der Baracke befindet sich eine der Drogenhöhlen von Borgo Mezzanone. Die nigerianische Mafia „Black Axe“, die hier mit der italienischen Mafia die Prostitution organisiert, kontrolliert das Camp. Weiße sind hier nur als Kunden geduldet. Die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität und der Ausbeutung der Erntehelfer sind fließend.
Die „Caporali“, weiße oder schwarze Organisatoren, holen die Billigarbeiter frühmorgens mit verrosteten Kleinbussen vom Ghetto zur Tomatenernte ab. 150 Euro für zwei Monate kostet ein Schlafplatz auf einer verdreckten Matratze in einer der Hütten. Für die Busfahrt auf die Felder berechnet der „Caporale“drei Euro, das Panino mittags kostet zwei Euro, die Flasche Wasser einen Euro. Ein Erntehelfer verdient zwischen 2,50 und 3,50 Euro pro geerntetem Zentner Tomaten. Bei 13 Stunden Arbeit kommt er auf 40 Euro am Tag. Das sklavereiartige System, auf das sich die gesamte Landwirtschaft der Provinz stützt, funktioniert, weil die Migranten keine Dokumente und deshalb keine Rechte haben. Gründe, das Lager zu räumen, hat Italiens Innenminister Matteo Salvini genug. Seit Jahren leben dort zur Erntezeit rund 2000 Migranten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Etwa 20 solcher Lager gibt es allein in der Provinz Foggia. Im März wurde die Barackensiedlung von San Ferdinando in Kalabrien geräumt. Stoßzeit war im Winter während der Ernte der Zitrusfrüchte. Gerade hat Salvini das staatliche Aufnahmelager in Mineo auf Sizilien schließen lassen. Im Jänner machte das Lager in Castelnuovo di Porto bei Rom dicht. Beide waren Symbole der gescheiterten Immigrationspolitik Italiens. Soziale Kooperativen bereicherten sich am Geschäft mit den Flüchtlingen. Die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität verschwammen.
Zur Zufriedenheit vieler Italiener greift Salvini, Vizepremier, Parteichef der rechten Lega und starker Mann der italienischen Politik, nun durch. Aber was bedeutet das für Länder, die Migranten wegen der Dublin-Verordnung nach Italien abschieben? 3000 Menschen wurden bis Juni 2019 aus EU-Ländern nach Italien zurückgebracht. Die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge im Süden leben, sind erbärmlich.
Welcher Wind inzwischen in Italien weht, hat auch Don Andrea Pupilla mitbekommen. Pupilla leitet die Caritas in San Severo, einer von der Mafia unterwanderten Kleinstadt in Apulien. Dienstagnachmittags berät die Caritas Migranten mit der Hilfe einer Anwältin. Sogar bei den gemeinsamen Mittagessen mit anderen Priestern aus San Severo steht Pupilla nun allein da. „Sie sagen alle, Salvini hat recht.“Der 38-jährige Priester hat vor allem eine Frage, es ist dieselbe, auf die auch Ibrahim, der wütende Mann aus dem Ghetto, keine Antwort hat: Wo sollen die Migranten hin, wenn ihre Bleiben dem Erdboden gleichgemacht werden?
Das Land verlassen sie nicht. Das ist ohne Dokumente kaum möglich. Zudem fühlen sich die meisten verpflichtet, den zurückgebliebenen Familien wenigstens ein wenig Unterstützung zukommen zu lassen. Eine Rückkehr ist aus Scham für die meisten nicht denkbar. Sie käme dem Eingeständnis des Scheiterns gleich. Abschiebungen gibt es wenige. 13 Monate nach Antritt der Regierung lebt immer noch geschätzt eine halbe Million Migranten ohne Aufenthaltserlaubnis in Italien.
Wenn man Sozialarbeiter oder Gewerkschafter befragt, die sich für die Rechte der Migranten in Apulien einsetzen, ergibt sich folgender Eindruck: Die italienische Regierung fährt eine Taktik der verbrannten Erde: Schließung der Lager, Zermürbung der Migranten. Im Hintergrund könnte die Hoffnung stehen, dass sich die miserablen Verhältnisse herumsprechen und Nachzügler abgeschreckt werden. Das Parlament in Rom hat seinen Teil zur Daumenschraube beigetragen. Die Abgeordneten schafften den Schutz aus humanitären Gründen ab. Immer weniger Migranten bekommen einen Aufenthaltstitel, der sie zum Bleiben berechtigt. „Was sollen sie machen?“, fragt Don Pupilla. „Sie ziehen weiter und bauen anderswo das Ghetto wieder auf.“
Auch Mohammad Abdul Fatah ist am Dienstag zur Beratung der Caritas gekommen. Der Ghanaer wartet auf seine Dokumente, die einfach nicht kommen wollen. Die Anwälte, an die er sich wendete, gehen nicht mehr ans Telefon. Mohammad ist dünn, sein rechter Arm hängt seit einem Unfall schlaff an seinem Oberkörper herab. Auch der 35-Jährige lebte in einem der Ghettos, bis er sich entschied, zu gehen. Das war vor sechs Jahren, im Jahr 2013.
Für den nächsten Morgen hat sich Mohammad bereit erklärt, sein jetziges Zuhause herzuzeigen. Es liegt in einer Linkskurve, 30 Kilometer nördlich von San Severo. Zwei Metallbaracken, in denen früher die Geräte der Straßenarbeiter aufbewahrt wurden, stehen in der Hitze. Mohammad teilt das Lager mit einem Freund. Ein Heer von Schmeißfliegen braust auf, als er sich nähert. Mohammad nutzt einen Plastikkübel als Dusche, seine Notdurft verrichtet er in der Wiese. Strom gibt es nicht, ein Gaskocher wurde ihm gestohlen. Abends entfacht er ein Feuer in der Hütte, um Reis oder Polenta zu kochen. Das Leintuch auf seinem Bett ist braun vor Schmutz.
„Im Winter ist es fürchterlich kalt“, sagt er. Die Helfer von der Caritas bringen dann Decken und Esskonserven. Sein Kleiderschrank ist eine Leine, die er in der Hütte aufgespannt hat. Hinter der Baracke hat Mohammad eine Wasserleitung angezapft. Mit dem Rinnsal, das aus der Leitung tropft, bewässert er einen kleinen Garten, in dem er Auberginen, Peperoncini und Okra angepflanzt hat. Der Garten ist unscheinbar. Unter diesen Bedingungen wirkt er jedoch wie der einzige Trost.
„Was sollen sie machen? Sie ziehen weiter und bauen anderswo das Ghetto wieder auf.“Don Andrea Pupilla, Priester in San Severo