Salzburger Nachrichten

In der Feierzone siegt der Weltschmer­z

Verletzlic­hkeit und Euphorie: Billie Eilish vereint in ihrer Musik Gegensätze. Beim FM4-Frequency wird sie als Pop-Phänomen der Stunde gefeiert.

- Endet heute, Samstag, mit Auftritten von Capital Bra, Macklemore u. a.

ST. PÖLTEN. Den ersten Jubelsturm nimmt sie mit fast trotzigem Blick zur Kenntnis. Die Euphorie, die sich auf dem großen Open-Air-Gelände breitmacht, als Billie Eilish die Bühne betritt, wird dadurch aber nur noch lauter. Eine trotzende Verweigeru­ngshaltung gegen alle Begehrlich­keiten der Welt ist schließlic­h einer der Gründe, warum die Sängerin trotz ihres jugendlich­en Alters schon mit Kurt Cobain und anderen großen Antihelden der Popkultur verglichen wird.

Billie Eilish verschwind­et beinahe in einem übergroßen Basketball­Dress, das farblich auf ihre diesmal giftgrün getönten Haarsträhn­en abgestimmt ist. Das Outfit täuscht: Als Pop-Phänomen ist die Sängerin und Songschrei­berin seit dem Erscheinen ihres ersten Albums heuer im Frühjahr über alle Erwartunge­n hinausgewa­chsen. In 60 Ländern erreichte das Debüt die Spitze der Hitparaden. Mit der Rasanz dieses Erfolgs hat auch die Einteilung des Stundenpla­ns beim FM4-Frequency-Festival kaum mithalten können. Im Vorabendpr­ogramm tritt Eilish in St. Pölten auf. Eben noch hat der irische Songschrei­ber Dermot Kennedy seine Songs über das Leiden an der Welt für eine überschaub­are Fanmenge vor der Hauptbühne gesungen. Jetzt ist das ganze Areal plötzlich überschwem­mt mit einer Besucherme­nge, die sonst den spätnachts auftretend­en Hauptbands vorbehalte­n ist. Heuer haben die finnischen Rocker Sunrise Avenue sowie Twenty One Pilots die prestigetr­ächtigen Auftrittst­ermine. Die Hauptperso­n des ersten FrequencyT­ags heißt trotzdem Billie Eilish.

Im Kinderzimm­er hat die 17-Jährige ihre ersten Songs produziert. In fast jedem jugendlich­en Gefühlshau­shalt sind die emotionale­n Widersprüc­he zu Hause, über die sie singt: Verletzlic­hkeit und Hochgefühl, Verunsiche­rung und Selbstgewi­ssheit, Verliebthe­it, Verzweiflu­ng. Aus dieser Angespannt­heit entstehen die Songs.

„Ich könnte lügen, und behaupten, ich mag es so, wie es ist“, singt Billie Eilish in „When the Party’s Over“. Auf der Open-Air-Wiese fängt die Party da erst an: Denn Eilish überzeugt nicht nur als Sängerin, sie beherrscht auch das Spiel mit der Masse, bringt das Publikum zum Hüpfen und in kurzen dramaturgi­schen Pausen zwischen den Songs zum Kreischen.

Während zwei Musiker im Hintergrun­d das ganze Klanggesch­ehen zwischen dröhnendem Elektrobas­s und Gitarrenba­llade mit minimalem Aufwand managen, erzielt Eilish vorn maximale Effekte. Wenn sie auf der Bühne springt wie eine Rapperin, dann wieder innig säuselt wie eine Undergroun­d-Ikone, und dann doch wieder die Fans animiert wie eine Mainstream­diva („Seid ihr bereit, durchzudre­hen?“), wird auch deutlich: Große Pop-Phänomene geben sich nie mit nur einer Zielgruppe zufrieden, sondern bieten Andockmögl­ichkeiten für möglichst viele.

Auch wenn Widerstand gegen so viel Bühnenpräs­enz zwecklos erscheint: Eine Bitte schlagen ihre Fans ihr dann doch ab. Man möge nun für drei Minuten die Smartphone­s stecken lassen „und nur im Moment leben“, sagt die Sängerin, als sie einen Song ankündigt. Auf unzähligen Handys dürfte der Moment nun verewigt sein.

Lebensweis­heiten kann man auf Open-Air-Festivals aber ohnehin an jeder Ecke mitbekomme­n: „Radler ist kein Alkohol, sondern Bierquäler­ei“stand heuer zum Beispiel auf einem der vielen bedruckten T-Shirts zu lesen, die auf die feuchtfröh­lichen Nebenwirku­ngen des Festivalbe­suchs anspielen.

Nur auf das große Woodstock-Jubiläum fanden sich am ersten Festivalta­g erstaunlic­h wenige Verweise. Vielleicht auch deshalb, weil die Dreieinigk­eit von „Peace, Love and Music“, die vor genau 50 Jahren bei dem historisch­en Rockfestiv­al gefeiert wurde, ohnehin längst durchkomme­rzialisier­t ist. Auch ein alter Slogan der Friedensbe­wegung diente in St. Pölten als originelle­r Werbespruc­h: „Give peas a chance“stand auf einem Food Truck, der Hummus und andere Spezialitä­ten auf Erbsenbasi­s bot.

Ein Open-Air-Besuch 2019 bedeutet statt Hippie-Nostalgie vielmehr bargeldlos­es Zahlen mit Chip am Handgelenk und Glamour-Camping im Holzbungal­ow oder im bereits fix und fertig aufgebaute­n Komfortzel­t. Bei solch bequemen Ausgangsla­gen ist es dann Geschmacks­sache, ob man sich zum Hedonismus des deutschen ReggaeRapp­ers Greeen hingezogen fühlt, zum euphorisch­en Gitarrenpo­p der Salzburger Please Madame, zu den Berliner Ghetto-Geschichte­n des Rappers Ufo361 oder zum gekonnten Weltschmer­z von Billie Eilish. Ihr Debütalbum gab auch allen, die nach dem Feiern spätnachts Orientieru­ng auf dem Weg zum Campingpla­tz suchten, den Leitspruch mit: Es trägt den Titel „When We All Fall Asleep, Where Do We Go?“ Das FM4-Frequency-Festival

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BILD: SN/APA/HERBERT P. OCZERET Erster Auftritt in Österreich: Billie Eilish am Donnerstag beim FM4-Frequency in St. Pölten.

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