Links und rechts haben ausgedient
Was ist heute in der Politik die „Mitte“? Der Ex-Politiker und Buchautor Stefan Grüll über „inhaltlose Kampfbegriffe“und bequem gewordene Wähler.
„Rechts. Links. Mitte. Was bin ich und wovon wie viel?
“So lautet der Titel eines vor Kurzem erschienenen Buchs des Berliner Anwalts und ehemaligen FDP-Abgeordneten Stefan Grüll. Für Grüll haben Rechtslinks-Zuschreibungen ausgedient. Die übertriebene Political Correctness betrachtet er als Gefahr für die Meinungsfreiheit.
SN: Sie fordern in Ihrem Buch „Respekt vor anderer Meinung“ein. Ist nicht in der Politik exakt das Gegenteil zu beobachten?
Stefan Grüll: Es wird härter. Das Stakkato in der Argumentation nimmt zu. Die Streitkultur schwindet immer mehr. Ich habe nichts gegen Zuspitzung. Die Verkürzung von Inhalten ist schlagzeilenträchtig. Aber das darf nicht alles andere überlagern. Sonst ist der Streit um den richtigen Weg nicht mehr möglich.
SN: Worin sehen Sie die Ursachen für die verhärteten Fronten?
Die Kommunikationswege haben sich verändert. In den sozialen Medien ist überhaupt nicht mehr erkennbar, was Meinung, was Fakt, was schlichte Lüge ist. Stößt diese unsägliche Melange dann auch noch auf die Bequemlichkeit vieler Wähler, überhaupt nur noch das zu lesen, was sie in der eigenen Meinung bestätigt, wird es gefährlich.
SN: Warum werden die Gräben in der Gesellschaft tiefer?
Ist die Asylfrage der einzige Grund? An der Migrationsdebatte macht sich alles fest. Es ist das, was am meisten polarisiert, weil es scheinbar am griffigsten ist, weil polemisierende Zuspitzung dort besonders leicht ist. Über den Klimawandel zu diskutieren ist ungleich schwerer.
SN: Sie kritisieren in Ihrem Buch „aufhetzende Simplifizierer“ebenso wie „Umverteiler“und randalierende Gelbwesten ...
... weil sie an den Symptomen laborieren und nicht an der Ursache. Es gibt nicht die einfache Antwort auf Migration, Umweltzerstörung oder soziale Ungerechtigkeit. Was die Gelbwesten betrifft: Eine zunächst gefeierte Bürgerbewegung mündete im Randaleritual auf den Champs-Élysées. Wo ist die politische Aussage der Gelbwesten? Und alles mit der Verteilungsfrage lösen zu wollen und so ein Paradies zu suggerieren – das hat mit der Realität nichts zu tun.
SN: Wenn Politiker nur an den Symptomen laborieren – was sind denn die Ursachen?
Nehmen wir die Armutsmigration: Seit Jahrhunderten organisieren wir unseren Wohlstand auf Kosten Afrikas und Europa trägt Mitschuld an vielen Kriegen, gerade auch um Rohstoffe. Aber kann die daraus erwachsene Verantwortung bedeuten, alle Flüchtlinge willkommen zu heißen? Wir erleben doch gerade, dass das nicht funktioniert. Die Lösung kann nur sein, Aufnahme und Verteilung wirklich Verfolgter im europäischen Kontext möglich zu machen – und endlich entschlossen zu beginnen, mit den Menschen vor Ort in Afrika Perspektiven für ihr Leben zu schaffen.
SN: Sie sagen, das Rechts-links-Schema in der Politik sei veraltet. Warum?
In Bürgerrechtsfragen bin ich sozialliberal. Wenn es um Waffenexporte geht, ziemlich links. Bei der Zuwanderung will ich eine Regulierung, die konsequent durchgesetzt wird. Bin ich deswegen ein Rechter? Die Etikettierung ist überholt, weil die Komplexität der Probleme eine solche einfache Zuordnung nicht mehr zulässt. Und dann sehen sich alle Parteien immer auch noch irgendwie in der Mitte. Auch das zeigt, dass diese Begriffe zu nichts mehr taugen. Das ist nichts als Etikettenschwindel.
SN: Andererseits hat es den Anschein, als würde die Mitte immer mehr ausgedünnt, während extreme Positionen links und rechts immer mehr Gehör finden.
Ich unterscheide zwischen Bürgern, die sich in der Mitte sehen, und der Politik, die die Mitte für sich reklamiert. Mitte heißt für mich als Liberalen: austarieren, die eigenen Interessen sehen, ohne die der anderen Seite zu missachten, leben und leben lassen, Rücksicht nehmen. So wollen das nach meiner Wahrnehmung auch die meisten Bürger. Die Politik hat den Begriff der Mitte aber zur Beliebigkeit degradiert, weil alle vorgeben, sich dort zu platzieren. Das ist für mich ein seelenloser, inhaltloser Kampfbegriff in der politischen Debatte geworden, der mit dem Empfinden der Menschen nichts zu tun hat. Oberste Maxime demokratischer Streitkultur muss wieder sein: einander zuhören und über Inhalte diskutieren. Das befördert automatisch die intellektuelle Redlichkeit und die Transparenz politischer Entscheidungen.
SN: Ist der Versuch, sich mit ruhigen, vernünftigen Argumenten gegen politische Schreihälse wie Boris Johnson oder einen Donald Trump durchzusetzen, nicht aussichtslos?
Ich habe Hoffnung! Es gibt so unglaublich viele, die den Anspruch haben, dass endlich wieder anders diskutiert wird. Gemeinsam müssen wir ein Klima schaffen, in dem jede Meinung innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens ihren Platz hat. Ich sehe diese Meinungsfreiheit gefährdet durch den Rückzug von Menschen, die sich sagen: „Den Stress eines Shitstorms tu ich mir nicht an.“
SN: Es scheint, als hätten viele heute Angst, sich öffentlich für eine „rechte
“Politik auszusprechen – etwa für die Begrenzung der Aufnahme von Asylbewerbern. Schließlich will niemand gern als Rechter oder gar als Nazi hingestellt werden. Gibt es dagegen ein Rezept? Für mich ist die Frage nicht: Rechts oder links? Sondern: Innerhalb oder außerhalb der Verfassung? Ich habe kein Problem damit, Jörg Meuthen (Bundessprecher der AfD) einen Demokraten zu nennen, und gerade deswegen erwarte ich von ihm klare Kante gegen rechts außen. Sahra Wagenknecht (Co-Vorsitzende von „Die Linke“), die mit der Kommunistischen Plattform früher in einer Grundgesetz-Grauzone agierte, ist für mich eine Demokratin, mit der es sich zu diskutieren lohnt.
SN: Sie kritisieren auch die Political Correctness, die die Meinungsfreiheit immer mehr einzuschränken droht. Inwiefern?
Das Problem ist, dass die Political Correctness eine solche Absurdität erreicht hat. Ein Beispiel ist Harald Schmidt, ein gefeierter Fernsehstar, intellektuell anspruchsvoll, seine Sendung hab ich selbst gern gesehen. Er sagt, seine Sendung wäre heute nach einer Woche eingestellt. Wenn so jemand das sagt, bedarf es keiner Erläuterung mehr, in welchen Sphären der Übertreibung wir uns befinden.
SN: Welche Sphären der Übertreibung meinen Sie?
Denken Sie beispielsweise an die Mohrenapotheken, die sich nach oftmals Jahrhunderten reihenweise umbenennen aus Angst vor eingeschlagenen Scheiben, weil der Name angeblich rassistisch ist. Dabei ist „Mohr“in diesem Fall ein Kompliment! Es ist eine Abwandlung von „Mauren“, die uns Europäern früher in der Medizin weit voraus waren. Wohin führt übertriebene Political Correctness? Lassen wir die Kirche im Dorf – wenn man das so noch sagen darf.