Die ganze Gesellschaft ausleuchten
Deutsches Debüt. Einer Gesellschaft wird hier kritisch der Spiegel vorgehalten. In der Wirtschaftswunderwelt, die Martin Walser in seinem ersten Roman „Ehen in Philippsburg“schildert, zählen vor allem privater Erfolg und gesellschaftliche Geltung, Einfluss und Wohlstand
Hans Beumann zum Beispiel ist einer, der Kompromisse zugunsten seiner Karriere macht. Als Student hat er noch feurige Reden gehalten über eine andere Verfasstheit der Gesellschaft, in welcher es allen gleich gut gehen solle. Seine Opposition hat folglich den reichen Leuten gegolten, die ein Luxusleben bloß deswegen genießen können, weil sie Reichtümer ererbt oder erworben haben; weil ihre Fähigkeit, mit Geld zu jonglieren, zum Prinzip des Gesellschaftsgetriebes geworden ist. Aber der Nörgler wirft seine politische Einstellung über Bord, als er den Pressedienst für den Industrieverband herausgibt und damit einem Fabrikanten von Radio- und Fernsehgeräten zu Diensten ist. Eine Party in der Fabrikantenvilla soll der Eintritt in die Gesellschaft von Philippsburg sein.
Gegenwartsversessen und geschichtsvergessen ist diese Gesellschaft. Zwar wirft die dunkle NS-Zeit ihre Schatten auf die junge Bundesrepublik. Doch die in Walsers Roman beschriebenen Personen befassen sich nicht damit. Sie stürmen stattdessen blindlings nach vorn. Überhaupt taucht Politik hier nur in vagen Umrissen auf: Vom Ringen zweier gegensätzlicher Welthälften ist die Rede; US-Präsident Eisenhower etwa rückt einmal kurz ins Bild. Der Leser erkennt in dem Buch vor allem dies: Eine Gesellschaft, die gerade im Aufbau ist, stürzt moralisch ab.
Schon in seinem Debütroman von 1957 erweist sich Martin Walser als genauer Beobachter gesellschaftlicher Zustände. Mit plastischen Details führt uns der Autor soziale Milieus der bürgerlichen Gesellschaft vor Augen. Zum ersten Mal erleben wir bei diesen sozialen Abmessungen den typischen Sound von Walsers Sprache. Ironisch und satirisch ist seine Gesellschaftsstudie in den „Ehen in Philippsburg“. Aber die Darstellung wirkt bei aller Zuspitzung desmit halb so treffend, weil sich der Verfasser offenkundig auskennt in dem von ihm umrissenen Ausschnitt der Wirklichkeit.
Die Villenviertel auf den Hügeln von Philippsburg verweisen unverkennbar auf die Topografie von Stuttgart. Die in dem Roman wiedergegebene Rundfunksphäre ist der Ort von Walsers eigenen beruflichen Anfängen. Der Autor Berthold Klaff, dem der Journalist Beumann gut bezahlte Aufträge beim Rundfunk beschaffen soll, hat Arno Schmidt zum Vorbild.
In den „Ehen in Philippsburg“fühlt sich der Rechtsanwalt Alexander Alwin berufen, weiter zu kommen als je einer aus seiner Verwandtschaft vor ihm – die „Ruhmtreppen hinauf, durch alle Stockwerke des Erfolgs“. Durch die Heirat mit einer Frau aus einer Adelsfamilie winkt ihm Protektion. Eine große Karriere soll ihm gewiss sein, indem er sich der Politik verschreibt. Als Führer einer neuen „christlich-sozial-liberalen Partei“stünde er am liebsten in offener Konkurrenz zu den etablierten Parteien. Aber weitaus vorteilhafter erscheint es ihm, sich den Kredit der Herrschenden zu sichern. Er sucht daher, dauernde Verbindungen zu diesen Kreisen zu schaffen. Das ist die „Außenpolitik der Familie“.
Eine solche Konstellation sollte in Walsers späterem Werk oft wiederkehren. Der Schriftsteller legt die Zwänge einer Gesellschaft bloß, die Menschen innerlich beschädigen. Seine Helden sind immer irgendwie Verlierer. Anders als in seinem Erstling zeigt Walser meist Mitgefühl für die Gebeutelten und Erfolglosen. Das gilt für Xaver Zürn im Roman „Seelenarbeit“(1979), der als Chauffeur des Fabrikanten Gleitze vieles hinunterwürgen muss – eine typische HerrKnecht-Geschichte. Das gilt für Gottlieb Zürn im Roman „Das Schwanenhaus“(1980), der als Immobilienhändler im Konkurrenzkampf unterliegt. Als im Jahr 1948 Ilse Aichingers einziger Roman „Die größere Hoffnung“erschien, war er aus zwei Gründen ein Singulär in der deutschsprachigen Literatur. Der Krieg war gerade einmal zwei Jahre vorbei – und niemand im aufstrebenden Österreich wollte daran erinnert werden, welche Spuren der Verwüstung der Zweite Weltkrieg in den Seelen der Menschen geschlagen hatten. Die Deutschen hatten Heinrich Böll und Wolfgang Borchert, die hartnäckig auf der Erinnerung des Entsetzlichen bestanden. Beide hatten als Soldaten grauenhafte Beobachtungen machen müssen, aus dieser Perspektive schrieben sie dann auch. Ilse Aichinger aber, die Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien, hatte von Erfahrungen zu berichten, von denen man gar nichts wissen wollte. Sie stand ja für das deklarierte Feindbild der Nazis, die Juden, deren Leben nichts zählte. Dass eine davon erzählte, wie sich Juden vor der Vernichtung zu retten suchten, war nicht erwünscht. Das sichert dem Roman eine Ausnahmestellung. Der zweite Grund, warum dieses Buch derart aus dem Rahmen fiel, ist die Art der literarischen Bewältigung. Böll und Borchert waren sich einig: Um die von den Nazis kontaminierte Sprache wieder literaturfähig zu machen, müsse sie sich jedes schmückenden Beiwerks entledigen. Das bewirkt harte, knappe Sätze, die Beschönigungen nicht zulassen. Aichinger aber – sie war bei Erscheinen des Buchs 26 Jahre alt – bediente sich einer poetischen Sprache, für Erzähltexte scheinbar nicht so recht geeignet. Dabei war diese Vorgangsweise bewusst gewählt. Aichinger, eine ausgesprochen sprachbewusste Autorin, fand zu einer Sprache, die
Start in Österreich. Nach dem Krieg redeten die Österreicher nicht gern von den Nazis und schon gar nicht davon, was den Juden widerfuhr. Doch gerade davon schrieb Ilse Aichinger in ihrem Debüt „Die größere Hoffnung“, einem Roman, dem man widerstand, indem man ihn ignorierte. Heute gehört er zum Kanon.
rhetorischen Konventionen brach. Um vom Ungeheuren überhaupt Bericht erstatten zu können, vermied sie gängige Sprachmuster, um ihre ganz eigene Sicht auf die Verhältnisse durchzubringen.
Dazu gehörte die Einstellung, die sie im programmatischen Essay „Aufruf zum Misstrauen“festhielt: „Wir müssen uns selbst misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen!“Das schließt das Misstrauen in die Sprache ein.
Im Mittelpunkt des Romans „Die größere Hoffnung“steht Ellen, eine junge Halbjüdin. Sie versucht wie andere Kinder, das Deutsch zu „verlernen“, handelt es sich dabei doch um die Sprache der Mörder. Der Englischlehrer klärt sie über die Unerreichbarkeit dieses Ziels auf, will ihnen aber behilflich sein, „es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig, behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder weitergeht“. Das Misstrauen in die Sprache und die Menschen ist umfassend, eines der zentralen Motive im Buch.
Die Wirkung des literarischen Werkes in den frühen Nachkriegsjahren blieb bescheiden. Die Leute konnten mit dieser energischen Behutsamkeit nichts anfangen, wie eine sperrig und unerbittlich von der Verfolgung der Juden schrieb. Aichinger verzichtet auf einen Realismus fortschreitender Ereignisse, indem sie dem linearen Erzählen eine Absage erteilt. Geschichte und Mythos, Traum und Erleben, Märchen und Vernunft gehen eine unauflösbare Einheit ein. Die halbwüchsige Ellen lebt unter ständiger Bedrohung, die nie direkt benannt wird. Aus der Gefühls-, Denk- und Lebenswirklichkeit des Mädchens entsteht eine unheimliche Sicht auf die Welt. Es lebt unter der ständigen Bedrohung, „abgeholt“zu werden, und sucht sich eine Welt zu erklären, aus der jeder klare Gedanke eliminiert worden ist.
Der Roman bildet den fulminanten Auftakt im Werk einer Autorin, die – fassungslos über den Zustand der Welt – immer knappere, extrem komprimierte Texte schreibt.