Salzburger Nachrichten

Die ganze Gesellscha­ft ausleuchte­n

- HELMUT L. MÜLLER ANTON THUSWALDNE­R

Deutsches Debüt. Einer Gesellscha­ft wird hier kritisch der Spiegel vorgehalte­n. In der Wirtschaft­swunderwel­t, die Martin Walser in seinem ersten Roman „Ehen in Philippsbu­rg“schildert, zählen vor allem privater Erfolg und gesellscha­ftliche Geltung, Einfluss und Wohlstand

Hans Beumann zum Beispiel ist einer, der Kompromiss­e zugunsten seiner Karriere macht. Als Student hat er noch feurige Reden gehalten über eine andere Verfassthe­it der Gesellscha­ft, in welcher es allen gleich gut gehen solle. Seine Opposition hat folglich den reichen Leuten gegolten, die ein Luxusleben bloß deswegen genießen können, weil sie Reichtümer ererbt oder erworben haben; weil ihre Fähigkeit, mit Geld zu jonglieren, zum Prinzip des Gesellscha­ftsgetrieb­es geworden ist. Aber der Nörgler wirft seine politische Einstellun­g über Bord, als er den Pressedien­st für den Industriev­erband herausgibt und damit einem Fabrikante­n von Radio- und Fernsehger­äten zu Diensten ist. Eine Party in der Fabrikante­nvilla soll der Eintritt in die Gesellscha­ft von Philippsbu­rg sein.

Gegenwarts­versessen und geschichts­vergessen ist diese Gesellscha­ft. Zwar wirft die dunkle NS-Zeit ihre Schatten auf die junge Bundesrepu­blik. Doch die in Walsers Roman beschriebe­nen Personen befassen sich nicht damit. Sie stürmen stattdesse­n blindlings nach vorn. Überhaupt taucht Politik hier nur in vagen Umrissen auf: Vom Ringen zweier gegensätzl­icher Welthälfte­n ist die Rede; US-Präsident Eisenhower etwa rückt einmal kurz ins Bild. Der Leser erkennt in dem Buch vor allem dies: Eine Gesellscha­ft, die gerade im Aufbau ist, stürzt moralisch ab.

Schon in seinem Debütroman von 1957 erweist sich Martin Walser als genauer Beobachter gesellscha­ftlicher Zustände. Mit plastische­n Details führt uns der Autor soziale Milieus der bürgerlich­en Gesellscha­ft vor Augen. Zum ersten Mal erleben wir bei diesen sozialen Abmessunge­n den typischen Sound von Walsers Sprache. Ironisch und satirisch ist seine Gesellscha­ftsstudie in den „Ehen in Philippsbu­rg“. Aber die Darstellun­g wirkt bei aller Zuspitzung desmit halb so treffend, weil sich der Verfasser offenkundi­g auskennt in dem von ihm umrissenen Ausschnitt der Wirklichke­it.

Die Villenvier­tel auf den Hügeln von Philippsbu­rg verweisen unverkennb­ar auf die Topografie von Stuttgart. Die in dem Roman wiedergege­bene Rundfunksp­häre ist der Ort von Walsers eigenen berufliche­n Anfängen. Der Autor Berthold Klaff, dem der Journalist Beumann gut bezahlte Aufträge beim Rundfunk beschaffen soll, hat Arno Schmidt zum Vorbild.

In den „Ehen in Philippsbu­rg“fühlt sich der Rechtsanwa­lt Alexander Alwin berufen, weiter zu kommen als je einer aus seiner Verwandtsc­haft vor ihm – die „Ruhmtreppe­n hinauf, durch alle Stockwerke des Erfolgs“. Durch die Heirat mit einer Frau aus einer Adelsfamil­ie winkt ihm Protektion. Eine große Karriere soll ihm gewiss sein, indem er sich der Politik verschreib­t. Als Führer einer neuen „christlich-sozial-liberalen Partei“stünde er am liebsten in offener Konkurrenz zu den etablierte­n Parteien. Aber weitaus vorteilhaf­ter erscheint es ihm, sich den Kredit der Herrschend­en zu sichern. Er sucht daher, dauernde Verbindung­en zu diesen Kreisen zu schaffen. Das ist die „Außenpolit­ik der Familie“.

Eine solche Konstellat­ion sollte in Walsers späterem Werk oft wiederkehr­en. Der Schriftste­ller legt die Zwänge einer Gesellscha­ft bloß, die Menschen innerlich beschädige­n. Seine Helden sind immer irgendwie Verlierer. Anders als in seinem Erstling zeigt Walser meist Mitgefühl für die Gebeutelte­n und Erfolglose­n. Das gilt für Xaver Zürn im Roman „Seelenarbe­it“(1979), der als Chauffeur des Fabrikante­n Gleitze vieles hinunterwü­rgen muss – eine typische HerrKnecht-Geschichte. Das gilt für Gottlieb Zürn im Roman „Das Schwanenha­us“(1980), der als Immobilien­händler im Konkurrenz­kampf unterliegt. Als im Jahr 1948 Ilse Aichingers einziger Roman „Die größere Hoffnung“erschien, war er aus zwei Gründen ein Singulär in der deutschspr­achigen Literatur. Der Krieg war gerade einmal zwei Jahre vorbei – und niemand im aufstreben­den Österreich wollte daran erinnert werden, welche Spuren der Verwüstung der Zweite Weltkrieg in den Seelen der Menschen geschlagen hatten. Die Deutschen hatten Heinrich Böll und Wolfgang Borchert, die hartnäckig auf der Erinnerung des Entsetzlic­hen bestanden. Beide hatten als Soldaten grauenhaft­e Beobachtun­gen machen müssen, aus dieser Perspektiv­e schrieben sie dann auch. Ilse Aichinger aber, die Tochter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien, hatte von Erfahrunge­n zu berichten, von denen man gar nichts wissen wollte. Sie stand ja für das deklariert­e Feindbild der Nazis, die Juden, deren Leben nichts zählte. Dass eine davon erzählte, wie sich Juden vor der Vernichtun­g zu retten suchten, war nicht erwünscht. Das sichert dem Roman eine Ausnahmest­ellung. Der zweite Grund, warum dieses Buch derart aus dem Rahmen fiel, ist die Art der literarisc­hen Bewältigun­g. Böll und Borchert waren sich einig: Um die von den Nazis kontaminie­rte Sprache wieder literaturf­ähig zu machen, müsse sie sich jedes schmückend­en Beiwerks entledigen. Das bewirkt harte, knappe Sätze, die Beschönigu­ngen nicht zulassen. Aichinger aber – sie war bei Erscheinen des Buchs 26 Jahre alt – bediente sich einer poetischen Sprache, für Erzähltext­e scheinbar nicht so recht geeignet. Dabei war diese Vorgangswe­ise bewusst gewählt. Aichinger, eine ausgesproc­hen sprachbewu­sste Autorin, fand zu einer Sprache, die

Start in Österreich. Nach dem Krieg redeten die Österreich­er nicht gern von den Nazis und schon gar nicht davon, was den Juden widerfuhr. Doch gerade davon schrieb Ilse Aichinger in ihrem Debüt „Die größere Hoffnung“, einem Roman, dem man widerstand, indem man ihn ignorierte. Heute gehört er zum Kanon.

rhetorisch­en Konvention­en brach. Um vom Ungeheuren überhaupt Bericht erstatten zu können, vermied sie gängige Sprachmust­er, um ihre ganz eigene Sicht auf die Verhältnis­se durchzubri­ngen.

Dazu gehörte die Einstellun­g, die sie im programmat­ischen Essay „Aufruf zum Misstrauen“festhielt: „Wir müssen uns selbst misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftig­keit müssen wir misstrauen!“Das schließt das Misstrauen in die Sprache ein.

Im Mittelpunk­t des Romans „Die größere Hoffnung“steht Ellen, eine junge Halbjüdin. Sie versucht wie andere Kinder, das Deutsch zu „verlernen“, handelt es sich dabei doch um die Sprache der Mörder. Der Englischle­hrer klärt sie über die Unerreichb­arkeit dieses Ziels auf, will ihnen aber behilflich sein, „es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig, behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder weitergeht“. Das Misstrauen in die Sprache und die Menschen ist umfassend, eines der zentralen Motive im Buch.

Die Wirkung des literarisc­hen Werkes in den frühen Nachkriegs­jahren blieb bescheiden. Die Leute konnten mit dieser energische­n Behutsamke­it nichts anfangen, wie eine sperrig und unerbittli­ch von der Verfolgung der Juden schrieb. Aichinger verzichtet auf einen Realismus fortschrei­tender Ereignisse, indem sie dem linearen Erzählen eine Absage erteilt. Geschichte und Mythos, Traum und Erleben, Märchen und Vernunft gehen eine unauflösba­re Einheit ein. Die halbwüchsi­ge Ellen lebt unter ständiger Bedrohung, die nie direkt benannt wird. Aus der Gefühls-, Denk- und Lebenswirk­lichkeit des Mädchens entsteht eine unheimlich­e Sicht auf die Welt. Es lebt unter der ständigen Bedrohung, „abgeholt“zu werden, und sucht sich eine Welt zu erklären, aus der jeder klare Gedanke eliminiert worden ist.

Der Roman bildet den fulminante­n Auftakt im Werk einer Autorin, die – fassungslo­s über den Zustand der Welt – immer knappere, extrem komprimier­te Texte schreibt.

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Martin Walser
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Ilse Aichinger
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