Wo die Bösen die Guten sind
Eidgenössisches Schwinger- und Älplerfest. 400 Sonderzüge, 18 Stunden Live-TV, 300.000 Fans: Die Schweiz sucht nächste Woche den Schwingerkönig.
Glauben Sie, unser Nachbarland Schweiz zu kennen? Dann raten Sie einmal, was dort die größte Sportveranstaltung in diesem Jahr ist. Falsch geraten, es ist weder die Herren-Abfahrt in Wengen noch das ATP-Turnier in Basel: Es ist das Eidgenössische Schwinger- und Älplerfest. Das findet nur alle drei Jahre statt und steigt in der kommenden Woche ab Donnerstag in Zug – und bringt die Schweiz tagelang in einen Ausnahmezustand. Der Begriff Fest ist da durchaus trefflich: Es ist ein Volksfest, bei dem ein ganzes Land sich selbst und seine Traditionen feiert. Eigentlich besteht das Älplerfest aus drei Sportarten, dem Schwingen, dem Tragen oder Stoßen des Unspunnensteins (83,5 kg) und dem Hornussen, einer reichlich seltsamen Mischung aus Wurfsport und Mannschaftssport. Doch eigentlich steht mittlerweile ganz das Schwingen im Vordergrund, in Zug wird heuer sogar auf das Hornussen verzichtet. Was mit dem Schwingen in den letzten 20 Jahren in der Schweiz passiert ist, das ist für Schweizer schwer und für Nicht-Schweizer gar nicht zu begreifen und füllt selbst in der „Neuen Zürcher Zeitung“schon einmal eine Feuilletonseite. Es sei eine Mischung aus der in einer globalisierten Welt so geschätzten Erinnerung an die gute alte Zeit, viel Traditionsbewusstsein und „Swissness“, wie man bei unseren Nachbarn das Schweizerische nennt, wenn man aus Großstädten kommt. Der Eidgenössische Schwinger-Verband nennt seine Sportart dagegen „urchig“. „Der große Durchbruch kam, als die Sportart erstmals im Schweizer Fernsehen live ausgestrahlt worden ist. Es hat sich eigentlich keiner vorstellen können, was da plötzlich abgegangen ist“, sagt der Journalist Peter Staub, der früher selbst Sportchef des Schweizer Fernsehens war. 2001 wurde die TV-Berichterstattung ausgebaut – mit einem solch durchschlagenden Erfolg, dass ab 2004 ausgiebig live übertragen wurde. Seitdem ist aus dem Älplerfest ein Sport-Event geworden, der staunen lässt: Das Budget dürfte sich heuer wieder um die 38 Millionen Franken bewegen, die Schweizer Bahn stellt 400 Sonderzüge, 300.000 Menschen werden auf dem Festgelände erwartet, doch nur die wenigsten sind in der glücklichen Lage, eine Eintrittskarte für das Stadion ergattert zu haben – obwohl es das größte temporäre Stadion der Welt ist: Unglaubliche 56.500 Sitzplätze sind auf der gewaltigen Stahlrohrkonstruktion verankert. In der Mitte sind die sieben Sägemehlkreise, auf denen die Schwinger gegeneinander antreten werden. Das aus 300.000 Einzelteilen bestehende Stadion ist seit Mai fertiggestellt, seit Juli gibt es tägliche Führungen, seit 9. August wird das Festgelände mit Live-Bands und Gastronomie bespielt – obwohl erst ab kommendem Freitag Bewerbe sind. Wer keine Karte für die Tribüne hat, verfolgt das Geschehen in den Restaurants, Bars und Ständen auf dem Festgelände, die täglich von 5.30 Uhr morgens bis drei Uhr früh geöffnet haben.
Die Organisatoren haben im Mai die letzten 3000 verfügbaren Tickets angeboten, dafür gab es eine Verlosung. An der haben 183.000 Fans teilgenommen. Und wer gar nicht dabei ist: Das Schweizer Fernsehen wird auch heuer 18 Stunden live übertragen. Sich der Sportart Schwingen anzunähern, das fällt nur auf den ersten Blick leicht. Am ehesten kann man es mit dem in unseren Breiten beliebten Ranggeln (das ist das Pendant das Hundstoa-Ranggeln) vergleichen – auch wenn Traditionalisten auf beiden Seiten den Vergleich wahrscheinlich ablehnen würden. Es geht im Grunde darum, den Gegner in das Sägemehl zu werfen. Der Kampf ist entschieden, sobald ein Schwinger mit dem Rücken ganz oder bis zur Mitte beider Schulterblätter den Boden innerhalb des Sägemehlrings berührt. Dann kommt die respektvolle Geste: Der Sieger wischt dem Verlierer das Sägemehl vom Hemd. Der Rest ist durchaus komplex. 248 Schwinger sind für das Eidgenössische Schwinger- und Älplerfest qualifiziert, die kommen von den fünf Schweizer RegionalSchwing-Verbänden – und kein Scherz: Acht Plätze sind für Auslandsschweizer reserviert. Die Kämpfer steigen auch nicht in den Ring, sondern „in die Hosen“, an denen man den Gegner festhält und so umzuwerfen versucht. Sie treten auch nicht zum Kampf an, sondern zu den Gängen. Die Gänge werden auch nicht ausgelost, sondern von den Vertretern der fünf Innerschweizer Verbänden in langen Verhandlungen zusammengestellt. Bis zum Gesamtsieg werden acht Gänge ausgetragen. Die ersten zwei Gänge führen gleich die besten Schwinger gegeneinander. Ein Wettkampftag beginnt mit dem Einmarsch um sieben Uhr morgens, dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne und um acht Uhr früh mit dem Anschwingen (so bezeichnet man den ersten und zweiten Gang) und später mit dem Ausschwingen (dem dritten und vierten Gang). Es geht nicht im K.-o.-System weiter, sondern mit einem komplizierten Punkteverfahren. Für einen Sieg gibt es je nach Urteil der Kampfrichter 9,5 bis 10 Punkte, für ein Remis 8,5 bis 9 Punkte, für einen Verlierer immer noch 8,25 Zähler. Nach je vier und sechs Gängen wird das Feld halbiert, dann kommt der Ausstich (fünfter und sechster Gang), der Kranzausstich (siebter Gang) und der finale Schlussgang. Da treten die beiden Schwinger mit der bis dato höchsten Punktezahl gegeneinander an – da aber auch alle anderen Schwinger einen achten Gang bestreiten, muss der Schweizer Schwingerkönig nicht zwingend aus dem Finalkampf kommen. Die Gänge dauern je fünf Minuten, der Schlussgang beim Eidgenössischen bis zu 16 Minuten. Der Schwingerkönig erhält als lebenden Hauptpreis einen Stier. Doch das ist nicht irgendein Stier; dieser wird in einem langen Auswahlverfahren gekürt. Schon die endgültige Wahl des Stiers ist mit einem Volksfest verbunden, in diesem Jahr fiel die Wahl auf Kolin. Ein schöner Hinweis auf die alpine Tradition des Sports. Auch für die Verlierer gibt es Ehren: Nur die besten 15 Prozent des Feldes erhalten wie bei jedem Schwingerfest einen Kranz – das sind die Eidgenossen. Nur wer mindestens einen Kranz gewonnen hat, darf sich als Böser bezeichnen – die Elite des Schwingersports. Dennoch ist die Welt der Schwinger nicht so heil, wie sie aussieht. Das gewaltige mediale und wirtschaftliche Interesse an dem Fest hat aus den Sportlern Schweizer Stars gemacht – doch die dürfen nur in eingeschränktem Maße werben. Paul Vogel ist seit 2014 Präsident des Schweizer Schwingerverbands, seiner Wahl gingen heftige Turbulenzen um die Lockerung des Werbeverbots voraus. Vogel will, dass seine Sportler einen „Zustupf“(eine Zuwendung) erhalten, er sagt aber über Schwingerstar Matthias Sempach auch: „Ich finde es schön, dass Sempach bewusst neben dem Sport arbeitet. Auch wenn er es sich leisten könnte, Profi zu werden.“Sempachs Werbeeinnahmen werden auf eine Million Franken geschätzt. Und neuerdings gibt es auch VIP-Bereiche – die erkennt man daran, dass dort die Zuschauer im Regen Schirme aufspannen, wie ein Purist gegenüber der NZZ geklagt hat.
Der große Durchbruch kam, als die Sportart erstmals im Fernsehen live ausgestrahlt wurde.
Peter Staub
Journalist