Salzburger Nachrichten

Wo die Bösen die Guten sind

Eidgenössi­sches Schwinger- und Älplerfest. 400 Sonderzüge, 18 Stunden Live-TV, 300.000 Fans: Die Schweiz sucht nächste Woche den Schwingerk­önig.

- MICHAEL SMEJKAL

Glauben Sie, unser Nachbarlan­d Schweiz zu kennen? Dann raten Sie einmal, was dort die größte Sportveran­staltung in diesem Jahr ist. Falsch geraten, es ist weder die Herren-Abfahrt in Wengen noch das ATP-Turnier in Basel: Es ist das Eidgenössi­sche Schwinger- und Älplerfest. Das findet nur alle drei Jahre statt und steigt in der kommenden Woche ab Donnerstag in Zug – und bringt die Schweiz tagelang in einen Ausnahmezu­stand. Der Begriff Fest ist da durchaus trefflich: Es ist ein Volksfest, bei dem ein ganzes Land sich selbst und seine Traditione­n feiert. Eigentlich besteht das Älplerfest aus drei Sportarten, dem Schwingen, dem Tragen oder Stoßen des Unspunnens­teins (83,5 kg) und dem Hornussen, einer reichlich seltsamen Mischung aus Wurfsport und Mannschaft­ssport. Doch eigentlich steht mittlerwei­le ganz das Schwingen im Vordergrun­d, in Zug wird heuer sogar auf das Hornussen verzichtet. Was mit dem Schwingen in den letzten 20 Jahren in der Schweiz passiert ist, das ist für Schweizer schwer und für Nicht-Schweizer gar nicht zu begreifen und füllt selbst in der „Neuen Zürcher Zeitung“schon einmal eine Feuilleton­seite. Es sei eine Mischung aus der in einer globalisie­rten Welt so geschätzte­n Erinnerung an die gute alte Zeit, viel Traditions­bewusstsei­n und „Swissness“, wie man bei unseren Nachbarn das Schweizeri­sche nennt, wenn man aus Großstädte­n kommt. Der Eidgenössi­sche Schwinger-Verband nennt seine Sportart dagegen „urchig“. „Der große Durchbruch kam, als die Sportart erstmals im Schweizer Fernsehen live ausgestrah­lt worden ist. Es hat sich eigentlich keiner vorstellen können, was da plötzlich abgegangen ist“, sagt der Journalist Peter Staub, der früher selbst Sportchef des Schweizer Fernsehens war. 2001 wurde die TV-Berichters­tattung ausgebaut – mit einem solch durchschla­genden Erfolg, dass ab 2004 ausgiebig live übertragen wurde. Seitdem ist aus dem Älplerfest ein Sport-Event geworden, der staunen lässt: Das Budget dürfte sich heuer wieder um die 38 Millionen Franken bewegen, die Schweizer Bahn stellt 400 Sonderzüge, 300.000 Menschen werden auf dem Festgeländ­e erwartet, doch nur die wenigsten sind in der glückliche­n Lage, eine Eintrittsk­arte für das Stadion ergattert zu haben – obwohl es das größte temporäre Stadion der Welt ist: Unglaublic­he 56.500 Sitzplätze sind auf der gewaltigen Stahlrohrk­onstruktio­n verankert. In der Mitte sind die sieben Sägemehlkr­eise, auf denen die Schwinger gegeneinan­der antreten werden. Das aus 300.000 Einzelteil­en bestehende Stadion ist seit Mai fertiggest­ellt, seit Juli gibt es tägliche Führungen, seit 9. August wird das Festgeländ­e mit Live-Bands und Gastronomi­e bespielt – obwohl erst ab kommendem Freitag Bewerbe sind. Wer keine Karte für die Tribüne hat, verfolgt das Geschehen in den Restaurant­s, Bars und Ständen auf dem Festgeländ­e, die täglich von 5.30 Uhr morgens bis drei Uhr früh geöffnet haben.

Die Organisato­ren haben im Mai die letzten 3000 verfügbare­n Tickets angeboten, dafür gab es eine Verlosung. An der haben 183.000 Fans teilgenomm­en. Und wer gar nicht dabei ist: Das Schweizer Fernsehen wird auch heuer 18 Stunden live übertragen. Sich der Sportart Schwingen anzunähern, das fällt nur auf den ersten Blick leicht. Am ehesten kann man es mit dem in unseren Breiten beliebten Ranggeln (das ist das Pendant das Hundstoa-Ranggeln) vergleiche­n – auch wenn Traditiona­listen auf beiden Seiten den Vergleich wahrschein­lich ablehnen würden. Es geht im Grunde darum, den Gegner in das Sägemehl zu werfen. Der Kampf ist entschiede­n, sobald ein Schwinger mit dem Rücken ganz oder bis zur Mitte beider Schulterbl­ätter den Boden innerhalb des Sägemehlri­ngs berührt. Dann kommt die respektvol­le Geste: Der Sieger wischt dem Verlierer das Sägemehl vom Hemd. Der Rest ist durchaus komplex. 248 Schwinger sind für das Eidgenössi­sche Schwinger- und Älplerfest qualifizie­rt, die kommen von den fünf Schweizer RegionalSc­hwing-Verbänden – und kein Scherz: Acht Plätze sind für Auslandssc­hweizer reserviert. Die Kämpfer steigen auch nicht in den Ring, sondern „in die Hosen“, an denen man den Gegner festhält und so umzuwerfen versucht. Sie treten auch nicht zum Kampf an, sondern zu den Gängen. Die Gänge werden auch nicht ausgelost, sondern von den Vertretern der fünf Innerschwe­izer Verbänden in langen Verhandlun­gen zusammenge­stellt. Bis zum Gesamtsieg werden acht Gänge ausgetrage­n. Die ersten zwei Gänge führen gleich die besten Schwinger gegeneinan­der. Ein Wettkampft­ag beginnt mit dem Einmarsch um sieben Uhr morgens, dem gemeinsame­n Singen der Nationalhy­mne und um acht Uhr früh mit dem Anschwinge­n (so bezeichnet man den ersten und zweiten Gang) und später mit dem Ausschwing­en (dem dritten und vierten Gang). Es geht nicht im K.-o.-System weiter, sondern mit einem komplizier­ten Punkteverf­ahren. Für einen Sieg gibt es je nach Urteil der Kampfricht­er 9,5 bis 10 Punkte, für ein Remis 8,5 bis 9 Punkte, für einen Verlierer immer noch 8,25 Zähler. Nach je vier und sechs Gängen wird das Feld halbiert, dann kommt der Ausstich (fünfter und sechster Gang), der Kranzausst­ich (siebter Gang) und der finale Schlussgan­g. Da treten die beiden Schwinger mit der bis dato höchsten Punktezahl gegeneinan­der an – da aber auch alle anderen Schwinger einen achten Gang bestreiten, muss der Schweizer Schwingerk­önig nicht zwingend aus dem Finalkampf kommen. Die Gänge dauern je fünf Minuten, der Schlussgan­g beim Eidgenössi­schen bis zu 16 Minuten. Der Schwingerk­önig erhält als lebenden Hauptpreis einen Stier. Doch das ist nicht irgendein Stier; dieser wird in einem langen Auswahlver­fahren gekürt. Schon die endgültige Wahl des Stiers ist mit einem Volksfest verbunden, in diesem Jahr fiel die Wahl auf Kolin. Ein schöner Hinweis auf die alpine Tradition des Sports. Auch für die Verlierer gibt es Ehren: Nur die besten 15 Prozent des Feldes erhalten wie bei jedem Schwingerf­est einen Kranz – das sind die Eidgenosse­n. Nur wer mindestens einen Kranz gewonnen hat, darf sich als Böser bezeichnen – die Elite des Schwingers­ports. Dennoch ist die Welt der Schwinger nicht so heil, wie sie aussieht. Das gewaltige mediale und wirtschaft­liche Interesse an dem Fest hat aus den Sportlern Schweizer Stars gemacht – doch die dürfen nur in eingeschrä­nktem Maße werben. Paul Vogel ist seit 2014 Präsident des Schweizer Schwingerv­erbands, seiner Wahl gingen heftige Turbulenze­n um die Lockerung des Werbeverbo­ts voraus. Vogel will, dass seine Sportler einen „Zustupf“(eine Zuwendung) erhalten, er sagt aber über Schwingers­tar Matthias Sempach auch: „Ich finde es schön, dass Sempach bewusst neben dem Sport arbeitet. Auch wenn er es sich leisten könnte, Profi zu werden.“Sempachs Werbeeinna­hmen werden auf eine Million Franken geschätzt. Und neuerdings gibt es auch VIP-Bereiche – die erkennt man daran, dass dort die Zuschauer im Regen Schirme aufspannen, wie ein Purist gegenüber der NZZ geklagt hat.

Der große Durchbruch kam, als die Sportart erstmals im Fernsehen live ausgestrah­lt wurde.

Peter Staub

Journalist

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BILDER: SN/EPA-DELLA BELLA, LEANZA, ESAFZUG Stier Kolin wurde nach langem Casting als Siegerprei­s 2019 auserwählt.
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