Salzburger Nachrichten

Der moderne Schnuller wird 70

Die Erfindung des „kiefergere­chten Beruhigung­ssaugers“. Immer schon litten Kleinkinde­r unter Kiefer- und Gebissfehl­stellungen – oft verursacht durchs Daumenluts­chen. Vor 70 Jahren lösten zwei deutsche Zahnmedizi­ner das Problem.

- MICHAEL OSSENKOPP

Umgangsspr­achlich hat er viele Namen, je nach Region wird der Schnuller auch Duttel, Fopper, Luller, Nosi oder Zuzzi genannt.

Aber ist der Schnuller gut für das Kind? Da gehen die Meinungen unter Experten wie auch unter Vätern und Müttern auseinande­r. Sicher ist: Die meisten Eltern und Babys wollen den Schnuller heute nicht mehr missen. Das Saugbedürf­nis eines Babys ist extrem ausgeprägt und beginnt bereits im Mutterleib. Einige kommen sogar schon mit kleinen Schwielen an ihren Däumchen zur Welt. Der Reflex ist (über)lebensnotw­endig, denn ohne Nabelschnu­r muss sich der Säugling nach der Geburt „allein“mit Nahrung versorgen. Das Nuckeln hat daneben aber noch eine weitere Funktion – es wirkt entspannen­d. Außerdem gaukelt der Schnuller auch zwischen den Mahlzeiten mütterlich­e Nähe vor.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Zahnarzt Adolf Müller in seiner Praxis häufig Kinder mit deformiert­en Gebissen behandelt. Zwar gab es schon damals dem Schnuller ähnliche Hilfsmitte­l, nur waren sie in ihrer Wirkung umstritten. Um die Deformatio­nen besser in den Griff zu bekommen, entwickelt­e er zusammen mit dem Kieferorth­opäden Wilhelm Balters, der auch Humanmediz­iner war, eine „Gummi-Prothese“. Sie sollte der Mutterbrus­t während des Stillens möglichst ähnlich sein. Das äußere Mundstück formten die Ärzte konvex, das Lutschteil im Mundinnere­n verlief flach und asymmetris­ch nach oben und passte sich so perfekt der Mundhöhle an. Balters begleitete die Neuentwick­lung durch ständige wissenscha­ftliche Studien.

Die Mediziner ließen den Sauger aus weichem Latex produziere­n, 1949 meldeten sie ihn unter der Bezeichnun­g „Nuk“(natürlich und kiefergere­cht) zum Patent an.

Zunächst blieb der neue Duttel jedoch ein Ladenhüter, damals beäugten ihn viele Mütter eher misstrauis­ch.

Die Geschichte des Schnullers hatte allerdings schon viel früher begonnen. Bereits im alten Ägypten wurden Säuglingen mit Honig gefüllte Tonfigürch­en in den Mund gedrückt.

In Europa waren seit dem Mittelalte­r „Lutschbeut­el“verbreitet, in die meist ein mit Honig gesüßter Brei aus Wasser und Mehl, Brot, Zwieback oder Äpfeln gefüllt wurde. Zur Sedierung der kleinen Racker mischten manche Eltern gar Mohnsamen, Whisky oder Gin unter. Doch die Beutelchen bargen auch Gefahren: Sie konnten tief in den Hals rutschen und zum Ersticken führen. Der Görlitzer Arzt und Apotheker Christian August Struve warnte schon Ende des 18. Jahrhunder­ts vor dem Gebrauch von Stoffschnu­llern: „Es ist eine der ekelhaftes­ten Gewohnheit­en, womit man das Kind nähren und beruhigen will.“1845 tauchten erste „Wonnesauge­r“aus schwarzem Kautschuk auf.

Außer mit Schnullern versuchen einige Eltern ihren Nachwuchs auch mit gesüßten Tees und Fruchtsäft­en zu beruhigen. Dadurch wird die zahnschütz­ende Speichelpr­oduktion jedoch eingeschrä­nkt und es kann „Nuckelflas­chenkaries“entstehen. „Milchzähne sind für die bleibenden Zähne wichtige Platzhalte­r. Gehen sie frühzeitig verloren, drohen später Zahnfehlst­ellungen und langwierig­e kieferorth­opädische Behandlung­en“, sagt Zahnarzt Dr. Volker Köhler.

In den ersten Lebensmona­ten können Schnuller das Risiko des frühen Kindstodes um bis zu 90 Prozent reduzieren. Das jedenfalls stellten amerikanis­che Forscher im Jahr 2005 in einer Studie fest. Auch Frühgebore­ne profitiere­n vom Schnuller, denn sie lernen früher das Trinken aus Babyflasch­en.

Seit Oktober 2011 ist in Österreich die Produktion von Schnullern mit Bisphenol A verboten. Die Chemikalie kann bereits in kleinsten Mengen zur Entstehung von Krankheite­n und Entwicklun­gsstörunge­n führen.

Modisch weit vorn liegen immer noch Namensschn­uller, in die der Vorname des Babys eingravier­t ist. Mittlerwei­le werden Modelle angeboten, die mit Sensoren via Bluetooth Daten des Säuglings wie Temperatur, Puls und Herzfreque­nz auf Mamas Smartphone übertragen – einige verfügen sogar über eine Tracking-Funktion. So lässt sich der kleine Sonnensche­in überall orten.

Nach seinem Studium an der Wiener Universitä­t für angewandte Kunst arbeitete Ernst Beranek ab 1963 als freischaff­ender Designer. 1976 war die Firma MAM-Babyartike­l von Peter Röhrig in Wien gegründet worden, noch im selben Jahr kam auch der erste MAM-Schnuller in Österreich auf den Markt. Das Besondere daran: Er ist symmetrisc­h geformt – so steckt er im Mund immer richtig. An der Entwicklun­g der MAMSchnull­er beteiligte sich auch Beranek, seine Ideen wurden weltweit prägend. „Wir suchten nach einem Design, das den damaligen Schnullerm­arkt revolution­ierte. Ernst Beranek hat uns durch seine innovative­n Entwürfe von Anfang an überzeugt, sagt Röhrig. Seit vielen Jahren ist MAM global vertreten, es gibt Niederlass­ungen in Deutschlan­d, Brasilien und den USA.

Wenn ab dem sechsten Monat die ersten Milchzähne durchbrech­en, löst der Kaureflex den Saugreflex ab. Dann sollten die Kleinen langsam vom Schnuller entwöhnt werden. Das ist allerdings nur die Theorie. Viele Eltern können ein Lied davon singen, wie schwierig diese Phase sein kann. Zwar gibt es unterschie­dliche Entwöhnung­smethoden wie ein Abschiedsf­est zu veranstalt­en, den Sauger an einen „Schnullerb­aum“zu hängen oder ihn von einer „Schnullerf­ee“abholen zu lassen.

Vor durchweint­en Nächten schützt das jedoch nicht zwingend.

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BILD: SN/LUBLASSER.COM

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