Verfluchter Tunnelblick
ICH kenne den Tunnelblick. Er taucht gelegentlich und unerwartet auf, wenn irgendeine Steuerung im Gehirn plötzlich ausblendet, was links und rechts von mir geschieht.
Das krasseste Erlebnis hatte ich an einem Sommermorgen, es ist schon einige Jahre her. Eine Nachbarskatze hatte sich bei uns vor das Haus gelegt, um ausgerechnet hier zu sterben. Der Nachbar grub die Katze ein – so weit, so gut. Doch am Morgen des folgenden Tages passierte etwas Seltsames: Unser eigener Kater Jimmy kam nicht wie üblich zu seinem Frühstück. Auf Drängen des Sohnes tat ich dann etwas, was ich sonst nie mache – ich suchte Jimmy. Und siehe da – hinter der Garage lag ein Katzenkadaver, weiß und schwarz wie Jimmy, nur furchtbar malträtiert. Und da war er, der Tunnelblick mit der vorgefertigten Meinung: Diese tote Katze musste unser Jimmy sein, irgendein Raubtier muss ihn massakriert haben. Eine andere Erklärung kam mir gar nicht in den Sinn. Betrübt machte ich mich also auf den Rückweg: Wie soll ich das den Kindern erklären? Mein Mund war trocken, ich ging in die Küche und schwieg. Es schien, als wären es Stunden, dabei vergingen nur ein paar Minuten, bis Jimmy ganz seelenruhig herein und Richtung Futternapf spazierte. Nie zuvor habe ich beim Anblick eines gefräßigen und nebenbei ziemlich ignoranten Haustiers eine derart große Erleichterung verspürt!
Was war geschehen? Ich ging nochmals hinunter zum Katzenkadaver. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um die vor unserem Haus verstorbene Nachbarskatze. Ein nächtlicher Räuber, Fuchs oder Dachs, hatte den Kadaver ausgegraben. Ich hätte nur nach links zum offenen Katzengrab schauen müssen. Dann wäre alles klar gewesen, doch der Tunnelblick verhinderte das.
Der Tunnelblick kann auch regelrecht die Sicht trüben. Etwa wenn mir wieder mal die Kontaktlinse entgleitet. Wie vor wenigen Tagen. Selbstverständlich muss die Linse, wie immer, auf dem Boden liegen. Sagt mir mein Kopf. Ich taste also das Waschbecken ab und den Badezimmerboden, schiebe die Waschmaschine beiseite. Eine halbe Stunde irre ich suchend herum – und habe nichts außer Staub auf den Fingern. Verfluchtes Ding – wo bist du? Schließlich gebe ich auf. Neue Linsen müssen her, das kann Wochen dauern. Bis dahin werde ich mehr schlecht als recht mit der Brille das Auslangen finden müssen. Kurz nach Ende der Suchaktion stehe ich in einem Lift, schau zufällig in den Spiegel – und traue meinen Augen nicht: Da ist die Linse, sie ist die ganze Zeit unter dem Auge an der Haut geklebt. Nur gesehen hab ich sie nicht – der Tunnelblick war die ganze Zeit über auf den Boden fixiert gewesen.