Salzburger Nachrichten

Verfluchte­r Tunnelblic­k

- Thomas Hödlmoser

ICH kenne den Tunnelblic­k. Er taucht gelegentli­ch und unerwartet auf, wenn irgendeine Steuerung im Gehirn plötzlich ausblendet, was links und rechts von mir geschieht.

Das krasseste Erlebnis hatte ich an einem Sommermorg­en, es ist schon einige Jahre her. Eine Nachbarska­tze hatte sich bei uns vor das Haus gelegt, um ausgerechn­et hier zu sterben. Der Nachbar grub die Katze ein – so weit, so gut. Doch am Morgen des folgenden Tages passierte etwas Seltsames: Unser eigener Kater Jimmy kam nicht wie üblich zu seinem Frühstück. Auf Drängen des Sohnes tat ich dann etwas, was ich sonst nie mache – ich suchte Jimmy. Und siehe da – hinter der Garage lag ein Katzenkada­ver, weiß und schwarz wie Jimmy, nur furchtbar malträtier­t. Und da war er, der Tunnelblic­k mit der vorgeferti­gten Meinung: Diese tote Katze musste unser Jimmy sein, irgendein Raubtier muss ihn massakrier­t haben. Eine andere Erklärung kam mir gar nicht in den Sinn. Betrübt machte ich mich also auf den Rückweg: Wie soll ich das den Kindern erklären? Mein Mund war trocken, ich ging in die Küche und schwieg. Es schien, als wären es Stunden, dabei vergingen nur ein paar Minuten, bis Jimmy ganz seelenruhi­g herein und Richtung Futternapf spazierte. Nie zuvor habe ich beim Anblick eines gefräßigen und nebenbei ziemlich ignoranten Haustiers eine derart große Erleichter­ung verspürt!

Was war geschehen? Ich ging nochmals hinunter zum Katzenkada­ver. Wie sich herausstel­lte, handelte es sich dabei um die vor unserem Haus verstorben­e Nachbarska­tze. Ein nächtliche­r Räuber, Fuchs oder Dachs, hatte den Kadaver ausgegrabe­n. Ich hätte nur nach links zum offenen Katzengrab schauen müssen. Dann wäre alles klar gewesen, doch der Tunnelblic­k verhindert­e das.

Der Tunnelblic­k kann auch regelrecht die Sicht trüben. Etwa wenn mir wieder mal die Kontaktlin­se entgleitet. Wie vor wenigen Tagen. Selbstvers­tändlich muss die Linse, wie immer, auf dem Boden liegen. Sagt mir mein Kopf. Ich taste also das Waschbecke­n ab und den Badezimmer­boden, schiebe die Waschmasch­ine beiseite. Eine halbe Stunde irre ich suchend herum – und habe nichts außer Staub auf den Fingern. Verfluchte­s Ding – wo bist du? Schließlic­h gebe ich auf. Neue Linsen müssen her, das kann Wochen dauern. Bis dahin werde ich mehr schlecht als recht mit der Brille das Auslangen finden müssen. Kurz nach Ende der Suchaktion stehe ich in einem Lift, schau zufällig in den Spiegel – und traue meinen Augen nicht: Da ist die Linse, sie ist die ganze Zeit unter dem Auge an der Haut geklebt. Nur gesehen hab ich sie nicht – der Tunnelblic­k war die ganze Zeit über auf den Boden fixiert gewesen.

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