Im Bann der Entenmuschel
Galicien ist das touristische Stiefkind Spaniens. Zu Unrecht. Besuch beim hippsten Pilgerziel, der hässlichsten Delikatesse und dem schönsten Strand Spaniens.
Satte grüne Landschaften, steil abfallende Steinküsten und bisweilen kühles regnerisches Wetter – nicht unbedingt die Attribute, die man mit Spanien verbinden würde. Genau das erwartet aber jene, die in die nordwestliche Ecke Spaniens reisen – und vieles mehr. Das vergleichsweise raue Klima verdankt die Provinz Galicien vor allem der langen Atlantikküste, die sich über 1650 Kilometer erstreckt, mit den für die Gegend charakteristischen Rías, schmalen Meeresbuchten, die tief ins Landesinnere reichen. Das C in Galicien verhindert übrigens Verwechslungen der spanischen Provinz mit der einstigen Grenzregion im Nordosten der Donaumonarchie. Für die Römer befand sich hier das Ende der Welt, finis terrae, heute Cabo de Finisterre oder Cabo Fisterra in der galicischen Sprache, die dem Portugiesischen ähnelt. Trotz dieser Randlage erfreut sich die Hauptstadt Santiago de Compostela seit dem Mittelalter großer Beliebtheit. Dass der große Platz vor der Kathedrale von Santiago ein Kraftpunkt ist, spürt man, sobald man ihn betritt. Santiago ist hipp. Gäste aus aller Herren Länder fotografieren sich vor dem imposanten Bau, der Romanik, Gotik und Barock verbindet. Viele haben sich auf dem Boden niedergelassen, um die einzigartige Stimmung aufzunehmen. Die zahlreichen Pilger sind leicht erkennbar an Rucksäcken, Schlapphut, Wanderstock und der traditionellen Jakobsmuschel. Seit rund 1200 Jahren ist die Kathedrale von Santiago Ziel von Wallfahrten und Pilgerreisen. Um das Jahr 820 wurde nämlich einigermaßen überraschend das Grab des Apostels Jakob im damaligen Königreich Asturien entdeckt. Mit dieser Sensation rückte der bis dahin bedeutungslose Ort schlagartig zum bedeutendsten Wallfahrtsort hinter Rom und Jerusalem auf. Der berühmte Jakobsweg – übrigens Weltkulturerbe so wie die Kathedrale und die Altstadt – besteht in Wahrheit aus mehreren Routen aus allen Himmelsrichtungen, die hier zusammenkommen, die meistfrequentierte kommt aus Frankreich.
Die Entdeckung des Apostelgrabs kam dem König sehr gelegen im Kampf gegen die arabischen Machthaber. Denn der Heilige griff immer wieder bei entscheidenden Schlachten im Kampf gegen die arabischen Besatzer der iberischen Halbinsel ein. Die Rückeroberung oder Reconquista gelang, Jakob bekam den Ehrentitel „matamoros“, Maurentöter, und den Schlachtruf „Santiago“, heiliger Jakob.
Heute ist die Stimmung in Santiago überaus friedlich, es ist eine quirlige, lebendige Studentenstadt, die auch viele weltliche Genüsse zu bieten hat, auch Gaumenfreuden. Dazu gehören an erster Stelle die unterschiedlichsten Sorten Muscheln, von Miesmuscheln über Jakobsmuscheln bis hin zu Entenmuscheln, bei denen es sich streng genommen um Krebstiere handelt. „Percebes“sind eine kulinarische Spezialität mit gewöhnungsbedürftigem Aussehen. Manche nennen sie „die hässlichste Delikatesse der Welt“. Ein Augenschein auf den Fischmärkten von Pontevedra, Vigo und Santiago zeigt: Entenmuscheln sehen tatsächlich aus wie Füße – von einem Reptil oder Minisaurier. Dem Geschmack tut das keinen Abbruch, aber sie haben ihren Preis. 250 Euro pro Kilogramm erklären sich aus der oft lebensgefährlichen Ernte der Meeresfrüchte, die vorzugsweise an schwer zugänglichen Klippen im Atlantik gedeihen. Nicht umsonst stammen die meisten von der „Costa da Morte“, der Todesküste.
Ungefährlich ist dagegen die Zucht von Miesmuscheln mithilfe von „Bateas“, floßähnlichen Plattformen aus Holz in den seichten Rías. An bis zu 500 mit Betonklötzen beschwerten Seilen werden die „mejillones“angesetzt. Bei einer Katamaran-Fahrt erleben Besucher die Muschelzucht aus nächster Nähe und auch unter Wasser, bevor sie die Muscheln mit Weißwein gleich an Bord verkosten können.
Unbedingt einen Besuch wert sind die Cíes-Inseln, ein aus drei Inseln bestehendes Naturschutzgebiet im Atlantik; schon die Römer nannten es „Inseln der Götter“. Nur 2200 Besucher täglich sind am alten Piratenstützpunkt erlaubt. Für Wasser und Nahrung müssen sie selbst sorgen, außer einem kleinen Café an der Anlegestelle und einem Campingplatz gibt es keine Infrastruktur auf den unbewohnten Inseln. Die entschädigen mit einzigartiger Flora und Fauna und dem angeblich schönsten Strand der Welt, der „Praia das Rodas“. Der Sand ist vanillefarben, das kristallklare Meer smaragdgrün, vom Wald weht Eukalyptusduft herüber. Karibikgefühle werden wach. Bis man ins Wasser geht, dessen Temperatur kaum je 20 Grad übersteigt.