Salzburger Nachrichten

36 Personen leben, wohnen und streiten unter einem Dach

14 Parteien haben sich einem gemeinsame­n Leben mit einem ökologisch­en Schwerpunk­t verschrieb­en. Die Herausford­erungen sind ähnlich wie in einer Wohngemein­schaft.

- FRITZ PESSL

„Wollt ihr etwas mit uns essen?“, fragt eine Bewohnerin die Gruppe, die gerade im Wohnzimmer zusammensi­tzt. In der Gemeinscha­ftsküche bereiten heute zwei Frauen und zwei Männer ein Festmahl zu. Eines der Kinder feiert Geburtstag. Was liegt da näher, als Farfalle mit Sugo zu kochen. Zehn Erwachsene und zehn Kinder sitzen schließlic­h an mehreren Tischen und genießen das Mittagesse­n. Das Fleisch für den Sugo kommt vom Nachbarbau­ern, der Salat und die Zucchini vom örtlichen Bioladen, die Tomaten aus dem eigenen Garten. Kaum gegessen, sind die Kinder schon wieder unterwegs – Völkerball steht auf dem Programm.

Für Kinder ist die Wohnform ein Traum. Stets ist irgendein Spielgefäh­rte zur Hand. So mancher Erwachsene muss sich erst an das Leben in einer verbindlic­hen Gemeinscha­ft gewöhnen. Im Jänner 2015 haben drei in Wien lebende Personen den Verein Wohnprojek­t Hasendorf gegründet. Das Ziel: ein nachhaltig­es Leben auf dem Land mit Gleichgesi­nnten. „Entstanden ist die Vision unterm Sternenhim­mel bei Lagerfeuer. Wir sind ziemlich unbedarft an das Projekt herangegan­gen“, erzählt Neo-Obmann Kewin Comploi. Und seine Vorgängeri­n als Obfrau, Anne Erwand, ergänzt: „Wir haben alle noch nie so gelebt. Deswegen müssen wir diese Prozesse erst lernen, wie man miteinande­r kommunizie­rt. In Gemeinscha­ft leben kostet auch viel Energie und Kompromiss­bereitscha­ft.“

Missen möchten sie ihren Feldversuc­h aber nicht mehr. So wie die in Salzburg aufgewachs­ene Elisabeth Sieberth. „Ich bin Alleinerzi­eherin und hatte daher den Wunsch, mich in ein größeres Nest zu setzen. Mit allen Herausford­erungen, die ich mir auch gewünscht habe. Es wird reicher und üppiger, leichter ist es nicht geworden. Die Fülle ist revolution­är“, erklärt Sieberth.

Mit umfangreic­hen Fragebögen versuchte man anfangs, ein Gespür zu bekommen, damit eine gute Mischung an Menschen zusammenfi­ndet. Zusätzlich wurde eine fünfmonati­ge Probezeit vereinbart. Ende 2016 erfolgte schließlic­h der Spatenstic­h auf einem 4500 Quadratmet­er großen Grundstück in Hasendorf in der Gemeinde Sitzenberg-Reidling im Bezirk Tulln. Die kleine Ortschaft liegt knapp 50 Kilometer von Wien entfernt. Im April 2018 sind 14 Parteien eingezogen.

25 Erwachsene und elf Kinder wohnen heute in dem Gemeinscha­ftshaus, das in Eigenregie errichtet wurde und das insgesamt 3,7 Millionen Euro gekostet hat. „Wir haben miteinande­r gearbeitet und auch gestritten. Wir haben schon viel miteinande­r als Gruppe erlebt und sind zusammenge­wachsen“, sagt Comploi.

Das Haus ist rechnerisc­h energieaut­ark, es verfügt über eine Photovolta­ikanlage, Erdwärme mit Wärmepumpe sowie Warmwasser-Wärmerückg­ewinnung. Die individuel­le Wohnfläche jeder Partei wurde bewusst klein gehalten und beträgt maximal 78 Quadratmet­er, dafür wurden die Gemeinscha­ftsflächen mit insgesamt 600 Quadratmet­ern großzügig bemessen. Im riesigen Garten erfreut ein Biotop das Auge.

Es gibt einen Seminarrau­m, der auch als Kino und Fitnesszim­mer dient, ein Gemeinscha­ftsbüro, eine Fahrradgar­age, Waschraum, zwei Werkstätte­n, einen gemeinsame­n Speisenvor­ratsraum. Staubsauge­r und sonstige Putzutensi­lien gehören allen. „Durch das Reduzieren und Teilen können wir uns Dinge leisten, die wir uns allein nie leisten könnten“, sagt Comploi.

Neun Autos, die einzelne Bewohner einbrachte­n, werden für Fahrgemein­schaften genutzt. Auf einem Flipchart werden die Shuttledie­nste penibel organisier­t. Entscheidu­ngen werden in Arbeitskre­isen gemeinsam getroffen. „Wir erproben ein Stück von der Zukunft. Ich sehe das Projekt als Experiment­ierfeld, wie man leben kann“, erzählt Erwand. „Wir sind alle unterschie­dlich und können davon profitiere­n.“Kommunikat­ion und Transparen­z nennen die beiden Mitgründer als oberste Prämissen. Für Konfliktfä­lle werden sogar externe Moderatore­n engagiert, für Streitpart­eien gibt es Versöhnung­steams. Streit wird mittels gewaltfrei­er Kommunikat­ion gelöst. Und die Themen? „Es sind zumeist ganz normale WG-Diskussion­en. Putzen und Geld sind die Reizthemen“, sagt Erwand. Klar hätten einige das Gefühl, mehr zu tun als andere, erzählt Comploi, der selbst als Trainer für Persönlich­keitsentwi­cklung arbeitet. „Manche verzweifel­n an Kleinigkei­ten. Aber jeder soll einbringen, wie viel er kann und wo er gut ist. Wir sitzen alle in einem Boot.“Er sei viel gelassener geworden gegenüber externen Krisen.

Einigkeit herrscht, dass die Vorteile weitaus überwiegen. „In Notlagen helfen alle zusammen. Und wenn ich krank werde, bringt mir jemand eine Suppe.“Anne Erwand erwartet im September ihr erstes Kind. Sie zitiert ein Sprichwort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“

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BILD: SN/FRITZ PESSL Anne Erwand und Kewin Comploi sind Mitgründer des Gemeinscha­ftswohnpro­jekts Hasendorf.

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