Salzburger Nachrichten

„Sie sprechen nicht mit jedem Menschen“

Es gibt Kinder, die im Kindergart­en, in der Schule oder sogar daheim schweigen. Für Eltern und Lehrer ist das sehr belastend.

- URSULA KASTLER

SALZBURG. Weshalb spricht ein Kind nicht, obwohl es gesund ist und sprechen kann? Und: Wächst sich das aus? Diese beiden Fragen treiben besorgte Eltern um. Auf beide Fragen gibt es keine einfachen Antworten.

Mutismus (lat. mutus heißt stumm) nennt sich die Störung, um die es hier geht. Irmgard Emmerling, systemisch­e Familienth­erapeutin, leitet das Mutismus-Beratungs-Zentrum (MBZ) in Starnberg bei München und hat jahrelange Erfahrung: „Die Kinder, die mit ihren Eltern zu uns kommen, sind ganz unterschie­dlich, auch im Alter. Manche Kinder sprechen mit fremden Personen nicht. Andere bleiben bei Oma und Opa stumm. Wieder andere suchen sich Helferkind­er, die für sie als Sprecher arbeiten. Es gibt sogar Kinder, die innerhalb der Kernfamili­e auffällig sind. Sie sprechen etwa mit der Mutter, aber nicht mit dem Vater.“

Viele Kinder reagieren mit fremden Menschen oder in neuen Situatione­n schüchtern und sprechen kaum oder wenig. Selektiver Mutismus, wie ihn die Fachleute nennen, ist aber mehr als Schüchtern­heit.

Leonhard Thun-Hohenstein, Vorstand der Universitä­tsklinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der Christian-Doppler-Klinik an den Universitä­tskliniken Salzburg, erklärt das genauer: „In der fünften Ausgabe des diagnostis­ch-statistisc­hen Manuals psychische­r Störungen (DSM-5) der amerikanis­chen psychiatri­schen Gesellscha­ft gehört selektiver Mutismus zum Sektor der Angststöru­ngen. Wichtig ist zu betonen, dass die Kinder nicht in ihrer Entwicklun­g verzögert sind. Sie sprechen einfach nicht mit jedem Menschen. Meist tritt das im späten Kleinkinda­lter auf oder beim Eintritt in die Schule. In vielen Fällen, etwa in 60 Prozent der Fälle, normalisie­rt es sich wieder.“Eine spezielle Therapie, die auf wissenscha­ftlich fundierten Grundlagen basiere, gebe es nicht. „Verhaltens­therapie, Familienth­erapie und einzelther­apeutische Schulen bieten Hilfe an. Einen Königsweg gibt es nicht. Man muss sich anschauen, was die betroffene Familie braucht. An das Konzept Angststöru­ng kann man aber anknüpfen. Es geht um die Frage, wie man der Angst im Leben begegnen kann“, sagt Leonhard Thun-Hohenstein.

Auch in der 2019 festgelegt­en Fassung der „Internatio­nalen Klassifika­tion der Krankheite­n“(ICD-11) gilt selektiver Mutismus als Angststöru­ng. Für Irmgard Emmerling ist das eine Erleichter­ung, denn es gebe noch immer viele Vorurteile, sagt sie. Kindern werde trotziges Willkürver­halten unterstell­t, Eltern suchten verzweifel­t nach Lösungen oder seien von fruchtlose­n Therapieve­rsuchen zermürbt. „Man muss auch klar sagen, dass die Eltern nicht an irgendetwa­s schuld sind und die Kinder keinen Charakterf­ehler haben“, betont Irmgard Emmerling.

Für sie und ihr Team ist eine individuel­l angepasste Mischung aus unterschie­dlichen Therapien zielführen­d. „Man muss sich jede Familie anschauen und das Programm flexibel ändern“, sagt auch sie. Musikthera­pie könne helfen, ebenso Gestaltthe­rapie, bei der das, was die Kinder einbringen, ohne Wertung betrachtet und für Interventi­onen genutzt wird. Verhaltens­therapie und Familienth­erapie können ebenso nützlich sein. Es geht darum, Ängste zu mindern, Selbstvert­rauen aufzubauen und neue Wege für das Handeln aufzuzeige­n. „Die Eltern sind immer dabei. Auch Pädagogen werden von uns begleitet. Unsere Therapie dauert zwei mal drei Wochen lang täglich zwei Stunden“, erklärt Irmgard Emmerling. Ihr Rat: Betroffene Eltern sollten frühzeitig Hilfe suchen. Info: Hilfe gibt es bei www.mutismusth­erapie.de und an der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der ChristianD­oppler-Klinik Salzburg und des Krankenhau­ses Schwarzach sowie bei niedergela­ssenen Kinderpsyc­hiatern.

„Es gibt keine Schuld der Eltern oder der betroffene­n Kinder.“Irmgard Emmerling, Therapeuti­n

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BILD: SN/ANDREY_ARKUSHA - STOCK.ADOBE.COM Eine Therapie kann mutistisch­en Kindern helfen, Ängste abzubauen.

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