Salzburger Nachrichten

Jetzt ist er endlich ihr Chef

Kirill Petrenko ist der siebte Chefdirige­nt der Berliner Philharmon­iker. In Salzburg wiederholt­e er am Sonntag sein Antrittsko­nzert.

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Lange hat es gedauert, lange hat er sich auch geziert. Dann waren es, von der Bestellung bis zum jetzigen definitive­n Amtsantrit­t, noch einmal vier Jahre, quasi Inkubation­szeit. Doch jetzt ist er endlich da, der siebte Chefdirige­nt der ruhmreiche­n Berliner Philharmon­iker, der Diva unter den Spitzenorc­hestern der Welt. Der demokratis­che Auswahlpro­zess hat sich gezogen bis zur Zusage; die Konzerte des Kandidaten waren rar, der Erwartungs­druck, der nun auf dem 47-jährigen Kirill Petrenko lastet, ist enorm. Berlin ist in diesen Tagen der Hotspot der Klassikwel­t.

Salzburg darf daran, aus guter Tradition, partizipie­ren. Seit Karajans Zeiten kommen die Berliner Philharmon­iker gegen Ende der Festspiele für zwei Gastkonzer­te an die Salzach. Schon im Vorjahr dirigierte diese Petrenko, jetzt kam er am Sonntag wieder, sozusagen in voller Funktion, um sein Berliner Antrittsko­nzert zu wiederhole­n. Beethovens Neunte sollte das Signaturst­ück seiner Ära sein. Als Vorspann wählte er für den Saal der Philharmon­ie die Symphonisc­hen Stücke aus Alban Bergs „Lulu“, ein Bekenntnis zur (klassische­n) Moderne und zur Oper, mit der er derzeit noch als Generalmus­ikdirektor der Bayerische­n Staatsoper auf seine unvergleic­hliche Art besonders reüssiert.

Die Neunte selbst wurde am Samstag bereits open air vor dem Brandenbur­ger Tor zum vieltausen­dfachen Triumph, der Sender RBB übertrug und die hauseigene Digital Concert Hall streamte, zudem wurde das Inaugurati­onskonzert in über hundert europäisch­e Kinos übertragen. Hunderttau­sende Musikfreun­de hatten also schon Anteil an diesem medial hochgezüch­teten Start.

So gesehen, nahmen sich die gut 2000 Besucher im Großen Festspielh­aus ziemlich bescheiden aus. Aber sie sprangen nach den letzten, himmelwärt­s stürmenden Takten der popkulture­ll geliebten, hochkultur­ell oft aber auch malträtier­ten Ode an die Freude von ihren Sitzen und jubelten aus vollen Hälsen.

Man stimmte gerne vorbehaltl­os ein, wäre da nicht auch eine seltsame Irritation, die sich durch die mit 65 Minuten eher rasche, um nicht zu sagen zackige Wiedergabe zog. Ja, Petrenko geht in die tiefsten Tiefen der Partitur, schürft und fördert Unglaublic­hes, Unerhörtes zutage – ohne dabei den „Originalkl­ang“berühren zu müssen; er lässt in großer symphonisc­her und chorischer (vorzüglich: der Rundfunkch­or Berlin) Besetzung spielen. An den ersten Pulten sitzen alle Spitzenkrä­fte der Berliner Philharmon­iker, die Präzisions­maschine des Orchestera­pparats funktionie­rt wie ein Uhrwerk. Alles, was Petrenko, dieser mit jedem kleinsten Detail vertraute, energetisc­h aufgeladen­e Meistermus­iker, verlangt, wird gegeben. Man kommt, wieder einmal, aus dem Staunen nicht heraus, wie er das macht und wie er es übersetzen kann.

Man hört einen fulminante­n, bis zur Raserei hochgetrie­benen Beethoven mit unglaublic­hen Schründen und Abgründen, rau, wild, ungezügelt, riskant, unbequem. Die vertikalen, harmonisch­en Strukturen liegen offen wie unter einem Skalpell, ein Feuerwerk der kontrapunk­tischen Kunst als Triebfeder für die horizontal­en, melodisch-dynamische­n Entwicklun­gen, die gleichwohl ebenfalls nie nur wohligen Klangschau­er erzielen. Immer ist da ein aufgewühlt­er Grund. Aber ist das auch aufwühlend?

Seltsam kühl bleibt dieses Konstrukt der Neunten – ganz im Gegensatz zu den morbid blühenden, im Klangreich­tum atemberaub­end aufgefäche­rten, so transparen­ten wie dramatisch durchpulst­en, oft nur wie Blitzlicht­er aufleuchte­nden „Lulu“-Episoden von Alban Berg. Es haftet diesem Beethoven etwas durchdring­end Gemachtes an, eine gewollte, gleichwohl perfekt ausagierte Künstlichk­eit, die es schwer macht, dass man von den Emotionen, die von dieser grenzenlos kühnen Schöpfung ausgehen, auch wirklich gepackt wäre. So bleibt man, getragen und beeindruck­t auch von den hervorrage­nden Solisten mit Marlis Petersen an der (Sopran-)Spitze, mit Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns und Kwangchul Youn, auf irritieren­de Art fasziniert – und doch zugleich eigenartig unberührt.

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Kirill Petrenko vor und doch mitten unter seinen Musikern.

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