Toskanische Töne
Die Musikstadt Siena
Die musikalische Dame aus der portugiesischen Reisegruppe kann es gar nicht fassen: Während einer Führung durch die Salons des Palazzo Chigi-Saracini lud sie der Fotograf spontan ein, ein paar Takte auf einem Bechstein-Flügel zu spielen. Um gleich darauf zu erfahren, dass dieses Instrument einst Franz Liszt höchstpersönlich gehört hatte, während seiner Zeit in Rom. Es wird heute noch gelegentlich von bedeutenden Künstlern gespielt.
In diesem Palast ganz nah dem muschelförmigen Hauptplatz Sienas atmet Geschichte auf Schritt und Tritt. Und doch gilt der Palazzo Chigi-Saracini als Geheimtipp. Die Besucher, die meist viel zu kurz in der Stadt bleiben, verweilen bei Dom, Palazzo Publico und vielleicht den Fresken im ehemaligen Krankenhaus Santa Maria della Scala. In den Palazzo Chigi-Saracini kommen hingegen nur Kundige.
Im 16. Jahrhundert ließen die Besitzer sechs mittelalterliche Stadthäuser miteinander verbinden, später wurde der Komplex um zwei Etagen aufgestockt. Heute verfügt der Palazzo über mehr als einhundert teils mit aufwendigen Deckenfresken geschmückte Zimmer, in denen italienische Kunst aus mehreren Jahrhunderten geradezu überquillt: Tafelmalerei, Ölgemälde, Vasen, Büsten, Statuen und kunstvoll geschnitzte Möbel mit Einlegearbeiten. Die heutige Anordnung der Sammlung geht auf Guido Graf Chigi-Saracini zurück. Der war nicht nur kunstgeschichtlich interessiert,
sondern auch Musiker. Sein Erbe ist im Sommer bei einem Rundgang durch das Haus zu hören: Aus der Aula Monteverdi dringen die Klänge eines Cellos, in der Aula Boccherini übt eine Flötistin und in der Aula Pergolesi unterrichtet Daniele Gatti den Dirigentennachwuchs. Die von Guido ChigiSaracini gegründete, seit 1958 als Stiftung agierende Chigiana-Musikakademie, die Accademia Musicale Chigiana, hielt in diesem Jahr insgesamt vierzehn Meisterkurse ab, mit höchst namhaften Künstlern als Leitern, wie etwa Salvatore Sciarrino, einer der meistgespielten Komponisten der Gegenwart.
Von den Meisterkursen profitiert nun auch das Publikum. Denn vor fünf Jahren, als der Hauptsponsor wegbrach, machte man aus der Not eine Tugend. Der Komponist und damalige Intendant des Opernhauses von Bologna, Nicola Sani, ließ sich von den Schweizer Akademiefestivals in Verbier und Luzern inspirieren: Die Musikwoche wurde auf zwei Monate ausgedehnt, und statt teuer eingeflogener Weltstars musizieren die Teilnehmer der Musikakademie, ergänzt durch etwa das Jugendorchester der Musikschule in Fiesole oder das Orchester der Toskana. Gespielt wird im Innenhof des Rektoratsgebäudes der Universität, in Kirchen, in den beiden alten Theatern der Stadt und natürlich weiterhin in dem Konzertsaal der Akademie, den Graf Guido im Jahr 1923 im Stil des venezianischen Rokoko hat bauen lassen.
Eine wahre Entdeckung sind jedoch die Konzerte der Chigiana-Stiftung im MonteOliveto-Kloster, rund 25 Kilometer südlich der Stadt! Nicht nur der Kreuzgang mit seiner über 500 Jahre alten Fresken-Biografie aus dem Leben des heiligen Benedikt liefert bleibende Eindrücke, auch die Fahrt dorthin durch die Crete Senesi: Hügel von goldgelb leuchtenden Weizenfeldern und kerzengeraden Zypressen. Im Kloster selbst huschen immer wieder Mönche in weißen Kutten an den Besuchern vorbei. Die Olivetaner folgen der Benediktinerregel, neben dem Beten steht für sie die Arbeit im Fokus des Klosterlebens. Und das Singen – für ihre öffentlichen Gebete in der Klosterkirche bilden sie mehrmals täglich einen gregorianischen Chor, etwa im Rahmen der Vesper, abends um halb sieben. Nicht verwunderlich also, dass sie sich im vergangenen Juli bei einem Chigiana-Konzert des Seneser Domchors neugierig unter das Publikum mischten.
Wer das Festival in diesem Jahr versäumt hat, muss nicht unbedingt bis zum nächsten Sommer warten. Die Accademia Chigiana produziert neben sporadischen Saisonkonzerten unter dem Titel „Micat in Vertice“neuerdings auch weitere Programminseln, Orgelkonzerte im Oktober und im November und ein Frühlingsfestival im Juni. Bei Letzterem füllen internationale Studenten, die sich die Kurse an ihren Unis für ihr Musikstudium anrechnen können, das Programm.
So wie die Profis in den Meisterklassen dürfen sich diese mitunter an den historischen Musikinstrumenten aus der ChigianaSammlung versuchen. Die enthält neben dem nicht mehr spielbaren, weltweit ältesten Cembalo ein sehr wohl noch wohlklingendes Stradivari-Cello – für Zaungäste des kleinen, aber feinen Musikinstrumente-Museums im Palazzo des kunstsinnigen Grafen bleibt das kostbare Instrument hinter dem schützenden Glas freilich tabu.