Es empfiehlt sich, die Wahl abzuwarten
Uns bleiben noch drei Wochen. Daher wäre es ein schwerer Fehler, Umfrageergebnisse mit Wahlergebnissen zu verwechseln.
Eine Mitteilung zur Sache: Die Nationalratswahl 2019 hat noch nicht stattgefunden. Das Ergebnis steht noch nicht fest. Wir müssen uns noch durch drei Wochen Wahlkampf quälen.
Wieso diese Selbstverständlichkeit hier betont wird? Weil der flüchtige Beobachter bei einem Blick in die mediale Welt sehr leicht zur Überzeugung kommen könnte, dass alles schon vorbei und die Wahl längst geschlagen ist. Weil nämlich etliche Kommentatoren, Meinungsforscher und sonstige Insassen der medialen Welt seit Wochen ebendiesen Eindruck erwecken. Den Eindruck nämlich, dass Sebastian Kurz und seine ÖVP die Wahl praktisch schon gewonnen hätten, die SPÖ ihre Wahlschlappe praktisch in der Tasche habe, die FPÖ mit einem blauen Auge davongekommen sei, die Neos achtbar abgeschnitten hätten, die Grünen zurück im Parlament seien und Peter Pilz endgültig auf dem Altenteil sitze.
Es ist schon klar: Die Umfragen legen nahe, dass am Wahlabend exakt dieses Ergebnis eingetreten sein wird. Aber eben erst am Wahlabend. Der ständige medial-politische Drang, das Ergebnis um Wochen vorwegzunehmen, führt zu einer verzerrten Wahrnehmung – und könnte, was die Sache schlimmer macht, auch das Wahlergebnis beeinflussen. Wenn nämlich die bürgerliche Hälfte Österreichs davon überzeugt ist, dass Sebastian Kurz seine 35 oder 38 Prozent ohnehin bereits sicher sind, könnte mancher versucht sein, seine Wahlentscheidung zugunsten der Neos zu überdenken. Das Gleiche gilt analog für Öko-Sympathisanten: Die Grünen von Werner Kogler werden seit Wochen als große Gewinner in den Nationalrat hineingeschrieben; sodass mancher Grünaffiner auf die Idee kommen könnte, dass die Grünen seine Stimme gar nicht mehr brauchen, weshalb er lieber den Versuch unternimmt, in der Wahlzelle Peter Pilz zu retten.
Es liegt daher auf der Hand, dass dieser überlange Wahlkampf besonders den türkisen und den grünen Parteistrategen bereits viel zu lange dauert. Ihnen fällt es zunehmend schwer, den bereits im Mai errichteten Spannungsbogen bis zum 29. September aufrechtzuerhalten. Sebastian Kurz und Werner Kogler, die von der öffentlichen Meinung bereits zu Wahlsiegern erklärt wurden, können in dieser Hinsicht eigentlich nur noch verlieren. Je länger der Wahlkampf dauert, je länger UmfrageKaiser Sebastian Kurz bei den Wahldiskussionen auf gleicher Augenhöhe mit seinen Verfolgern diskutieren muss, je länger sich Werner Kogler mit Peter Pilz messen muss, desto stärker wird die Chance, dass die vorhergesagten Wahlergebnisse noch ins Rutschen kommen. In diesem Licht ist auch verständlich, dass ausgerechnet SPÖ und FPÖ den langen Wahlkampf noch stärker in die Länge zogen, indem sie den Wahltag nicht – wie es auch der Bundespräsident gewünscht hätte – auf Anfang September terminisierten, sondern auf den letzten Sonntag im September: Die SPÖ steckte zu Beginn des Wahlkampfs noch mitten in einer Führungskrise, die FPÖ lag nach Ibiza auf dem Boden. Je später der Wahltag, desto besser, zumindest aus deren Warte. Die ÖVP war gegen den verspäteten Wahltermin – aus den umgekehrten Gründen.
Bemerkenswerterweise hat sich an der Umfrage-Lage seit Beginn dieses Wahlkampfs nur wenig geändert. Die Änderungen von Woche zu Woche, von Umfrage zu Umfrage bewegen sich im niedrigsten einstelligen Bereich. Doch wie auf Seite 2 dieser Zeitung nachzulesen ist, wäre es ein schwerer Fehler, Umfrageergebnisse mit Wahlergebnissen zu verwechseln. Die Geschichte der Wahlen wimmelt von prognostizierten Erdrutschsiegen, die dann nicht stattfanden, und prognostizierten Kopf-an-KopfRennen, die nur in der virtuellen Welt der Umfragen existierten. Und dies nicht nur in Österreich. Hillary Clinton ist von Experten aller Lager in den Wochen vor der US-Wahl 2016 vorauseilend zur logischen Siegerin erklärt worden, ehe dann der mehrfach totgesagte Donald Trump das Weiße Haus eroberte. Den Briten war im gleichen Jahr 2016 von den meisten Experten ein Verbleib in der EU prognostiziert worden, ehe dann die Brexiteers einen überraschend eindeutigen Abstimmungserfolg einfuhren.
Kurzum: Es empfiehlt sich, den Wahltag abzuwarten, ehe man allzu weitreichende Schlüsse aus einem Wahlergebnis zieht, das noch gar nicht vorliegt.