Der Goldene Löwe in Venedig lacht mit dem Joker
Die Verleihung des Hauptpreises an die Comicverfilmung ist Schlusspunkt eines merkwürdigen Festivaljahrgangs.
Das Kino liebt Underdogs, benachteiligte Typen, die es trotz aller Widrigkeiten nach oben schaffen. In Venedig nun hat so ein Underdog den Goldenen Löwen bekommen: Ausgerechnet „Joker“von Todd Phillips, die fantasyfreie Herkunftsgeschichte eines Comicschurken, hat den Hauptpreis von der Jury unter der Leitung der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel erhalten. Es ist der düsterste Indie-Film unter den Comicverfilmungen: Joker, später Widersacher von Batman, ist unter dem zivilen Namen Arthur Fleck (gespielt von Joaquin Phoenix) ein psychisch Versehrter, der als Kind missbraucht wurde, als Mietclown wenig verdient, die schöne Nachbarin aus der Ferne anhimmelt und als Stand-upComedian Erfolg hätte.
Martin Scorsese ist gleich mit zwei Filmen Pate gestanden, mit „King of Comedy“über den Möchtegernkomiker Rupert Pupkin und „Taxi Driver“, der nach dutzendfachen Enttäuschungen zum Gewalttäter wird. Auch Arthur Fleck reagiert irgendwann auf eine Demütigung mit Gewalt und löst damit fast einen Bürgerkrieg aus – und so wird aus dem Underdog Arthur der bös lachende Joker. Wer Jurychefin Lucrecia Martel kennt, darf von der Juryentscheidung nicht überrascht sein: Ihr Film „Zama“etwa ist mindestens so finster, und Martel ist erklärter Fan von B-Movies – und in ihrer Jury saßen unter anderem „American Psycho“-Regisseurin Mary Harron und „Nymphomaniac“-Star Stacy Martin.
Die anderen Preisentscheidungen sind kaum weniger abgründig. Mit dem Silbernen Löwen für Roman Polańskis „J’accuse“hat die Jury allen Festivalbeobachterinnen ein Ei gelegt, war doch der Jahrgang von der Debatte geprägt, ob ein Regisseur, der 1977 vor seinem Verfahren wegen Vergewaltigung einer 13Jährigen geflohen ist, die Unterstützung einer Festivalbeteiligung bekommen soll. „J’accuse“über die Dreyfusaffäre, also ironischerweise über einen Mann, der zu Unrecht verurteilt wurde, ist aufschlussreiches Kino, das von Totalitarismus, Antisemitismus und Überwachungsstaat berichtet. Im Presseheft allerdings notiert Polański: „In der Geschichte finde ich Momente wieder, die ich selbst erlebt habe, ich sehe da dieselbe Entschlossenheit, Fakten zu ignorieren und mich für Dinge zu verurteilen, die ich nicht getan habe“– „J’accuse“also als Selbstverteidigung? Mit dem Preis hat zumindest diese Jury der Frage, ob in die Würdigung eines Kunstwerks Übergriffsvorwürfe an seinen Urheber miteinzubeziehen sind, eine klare Absage erteilt.
Für die beste Regie wurde der Schwede Roy Andersson ausgezeichnet, für „About Endlessness“– ein „Filmgedicht“, wie Andersson im SN-Gespräch sagt: In losen Szenen von großer Banalität, Zartheit, Grausamkeit oder Einsicht handelt Anderssons Film vom Menschsein und seinen Begleiterscheinungen, ein beglückender Film von knapp 75 Minuten. Zur besten Schauspielerin wurde Ariane Ascaride in Robert Guédiguians „Gloria Mundi“gekürt, zum besten Schauspieler Luca Marinelli für seine Darstellung der Titelfigur in Pietro Marcellos JackLondon-Verfilmung „Martin Eden“, die die Geschichte ins Italien der Siebzigerjahre transponiert. Der ungewöhnlichste Film unter den preisgekrönten ist zweifelsohne der für das Drehbuch geehrte surreale Animationsfilm „No.7 Cherry Lane“des Chinesen Yonfan, eine fetischisierte Würdigung europäischer und chinesischer Literatur des 19. Jahrhunderts.
Die Löwen sind in diesem Jahr vor allem geeignet, darüber zu streiten; zumindest beim „Joker“können in Österreich ab dem Kinostart am 11. Oktober alle mitreden, die möchten.