Die Innenwelt sprengt die Außenwelt
Mit „Solenoid“legt Mircea Cărtărescu einen sprachmächtigen Universalroman vor.
In Rumänien, gleichsam im literarischen Hinterhof Europas, ist in den letzten zwanzig Jahren ein singuläres und alle Grenzen sprengendes literarisches Werk entstanden, das inzwischen auch die Aufmerksamkeit der Schwedischen Akademie erregt. Sein Autor, Mircea Cărtărescu, 1956 in Bukarest geboren, ist Lyriker, Literaturdozent und Romancier, und er geht aufs Ganze. Er will nicht bloß Geschichten über die Welt erzählen; er hat den Ehrgeiz, dass sein Werk selbst Welt sei. Spätestens seit seine monumentale Romantrilogie „Orbitor“, an der er siebzehn Jahre lang gearbeitet hat, in Übersetzungen vorliegt, ahnt die Literaturwelt, was damit gemeint ist.
Mircea Cărtărescu hat jahrzehntelang in innerer Opposition zur Ceaușescu-Diktatur gelebt. Das prägte sein Selbstverständnis als Autor und sein Werk. Von Anfang an bis heute lebt er in zwei Welten. Seine erste und eigentliche Welt ist sein inneres Universum. Das ist das Reich der Freiheit des Individuums, der Kunst, der Träume, der Fantasie.
Die äußere Realität, die politische und soziale Wirklichkeit Rumäniens, hat dagegen nur den Status einer kaputten, unfreien und gespenstischen Parallelwelt, und für diese steht als Großmetapher Bukarest, der Schauplatz aller Romane Cărtărescus – Bukarest als eine ins Fantastische überhöhte, aber unterhöhlte, morbide Ruinenstadt.
Die freie innere Welt im Widerstreit mit der unfreien Außenwelt: Das ist Mircea Cărtărescus Grundthema. Das treibt auch den namenlosen Icherzähler seines jüngsten Universalromans „Solenoid“um. Gleich eingangs verkündet er programmatisch seinen Vorsatz: „Ich möchte einen Bericht über meine Anomalien verfassen.“Sein einziges Thema sei „die exzentrische Welt unter meiner Schädeldecke“. Alles spielt sich allein im Kopf des Erzählers, in seinem „Einverleibungsapparat“, ab – und dieser Kopf glüht. Er will die Realität auf surreale Weise übersteigen und in eine imaginäre vierte Dimension hinter unserer dreidimensionalen Welt vorstoßen.
„Solenoid“– das sind mehr als 900 sprachmächtige Seiten überhitzter Prosa voll exaltierter Metaphern, bizarrer Allegorien und apokalyptischer Bilder. Entworfen wird ein Panoramabild vom inneren Kosmos des Autors und seiner Stellvertreterfigur, des Icherzählers – ein Bild seiner abseitigen und verwegenen Lektüren, seiner Erinnerungen an Kindheitsängste und Pubertätswirren, seiner extremen Gemütszustände, seiner Obsessionen und Albträume. Es entsteht so ein flirrendes Kaleidoskop von Bewusstseinssplittern, Fantasieblitzen, Halluzinationen und Visionen. Eingearbeitet sind überdies Wirklichkeitspartikel aus den finsteren Hunger- und Kältejahren der Ceaușescu-Diktatur und so manche autobiografischen Details aus Cărtărescus eigener Kindheit und Jugend sowie seinen Fronjahren als Rumänisch-Lehrer an einer Bukarester Schule.
Das Ganze wird vorgeführt in einer Hochfrequenzsprache mit komplizierter Syntax und phänomenalem Wortreichtum und ist durchsprenkelt mit befremdlichen und entlegenen Wortfunden, die den unterschiedlichsten Diskursen und Wissensreservaten entnommen sind. Den Leser überschütten wahre Metaphernkatarakte und Bilderkaskaden, vom Übersetzer Ernest Wichner mit sprachschöpferischer Imagination kongenial ins Deutsche übertragen.
Die Wirkung auf den Leser ist horrend – magnetisch, oft bestürzend und verstörend, mitunter auch grausig und eklig, doch in den besten Passagen geradezu psychedelisch. Da Cărtărescu nicht mit abstrakten Reflexionen arbeitet, sondern alle Gedanklichkeiten sofort anschaulich macht, indem er sie in sinnliche Bilder und Allegorien übersetzt und in Erzählung überführt, hat dieser Roman-Solitär als intensives Leseerlebnis in der Gegenwartsliteratur nicht seinesgleichen. In seiner Galaxie kreisen allenfalls noch Thomas Pynchon, Jorge Luis Borges oder Roberto Bolaño.
Nichts, was dem Erzähler durch den Kopf geht, entspricht gängigen Erwartungen oder üblichen Erfahrungen von Kindern. Alles nimmt extreme Dimensionen an – seine Kindheit ist eine exaltierte Abfolge von Folterdramen beim Zahnarzt oder beim Impfen. Mit Verdacht auf TBC wird der Neunjährige in ein Karpaten-Sanatorium verfrachtet, wo ihm von einem etwas älteren Freund die beiden Geheimnisse der Erwachsenenwelt offenbart werden – Sex und Tod.
Doch der eigentliche metaphysische Ort des Romans ist Bukarest. Unter der Stadt tut sich eine gespenstische Unterwelt auf. Die Ruine einer verlassenen Fabrik oder ein Museum für Rechtsmedizin können sich jederzeit in ein Pandämonium verwandeln, durchwimmelt von Hieronymus-Bosch-Geziefer und dalíhaften Monstren auf Spinnenbeinen. Parasiten, „die den Körper befallen und von innen und außen auffressen“, sind die grausigste Quelle für die Angstbilder im Kopf des Erzählers.
Angetrieben wird diese Gegenwelt von den Solenoiden, sechs mächtigen elektromagnetischen Spulen, in denen eine unterirdische Energie von solcher Intensität vibriert, dass dort die Schwerkraft aufgehoben ist. In einer apokalyptischen Schlussvision reißen die Solenoide die ganze Stadt Bukarest aus dem Boden und heben sie zehn Kilometer in die Höhe, wo sie dann zwischen den Wolken schwebt.
Das Paradoxon dieses Romans liegt darin, dass der Icherzähler vorgibt, er sei ein schlichter Bukarester Lehrer ohne literarischen Ehrgeiz, der dieses Journal nur für sich selbst geschrieben habe, als höchst privaten „Versuch, meine Anomalien zu verstehen, meinen Geist und mein Leben“. Dass er sein Journal ein „Anti-Buch“nennt, „das für alle Zeiten obskure Werk eines Anti-Schriftstellers“, könnte man dem berühmten Autor als Koketterie auslegen, wenn sich „Solenoid“nicht auch als Abkehr von Cărtărescus lebenslangem Konzept eines Ich-Universums als einzig wahrer Realität deuten ließe. Mehrfach thematisiert der Roman ein moralisches Dilemma: Was würdest du aus einem brennenden Haus retten – ein berühmtes Gemälde oder ein Baby? Die Antwort des Erzählers ist eindeutig: Er entscheidet sich gegen die Kunst und für das Leben.
Der Autor gewährt seinem Erzähler-Ich zum Schluss ein prekäres Familienglück in einer baufälligen Kapelle außerhalb des Höllenkraters, der einst Bukarest war. Gewiss: eine zutiefst beschädigte, fragwürdige Idylle, aber eine Hinwendung zur realen Welt und zur Bejahung der Wirklichkeit. Immerhin.