Salzburger Nachrichten

Frei, fromm, verfolgt

Auf den Spuren der Beginen. In Flandern stehen noch ihre Wohnstätte­n. Sie selbst aber sind verschwund­en. Im Mittelalte­r begannen Frauen ein eigenständ­iges Leben – ohne Mann und Kirche. Das war unerhört.

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Frei ist mein Fortbestan­d. Ich will nichts von irgendjema­ndem. Aus dem „Spiegel der einfachen Seelen“von Marguerite Porète

Es ist der 1. Juni 1310, ein Pfingstmon­tag. Auf der Place de Grève in Paris haben sich hohe Würdenträg­er von Staat und Kirche ebenso versammelt wie das gemeine Volk. Die Menge will und wird eine Frau brennen sehen: Marguerite Porète, verurteilt zum Tod auf dem Scheiterha­ufen. In den Augen der Kirche ist sie eine verstockte Ketzerin, die auch nach zwei Jahren im Kerker ihren „Irrlehren“nicht abgeschwor­en hat. Zu lesen sind diese im „Spiegel der einfachen Seelen“. Porète hat das Buch nicht auf Latein, sondern auf Französisc­h verfasst, der Sprache des Volkes. Entspreche­nd beliebt und verbreitet ist das Werk. Sie beschreibt darin den Weg, den die Seele nehmen muss, um zu Gott zu gelangen. Passagen, wonach die Verbindung mit Gott auch ohne kirchliche Vermittlun­g möglich sei, rufen die Inquisitio­n auf den Plan. Der Prozess erregt großes Aufsehen. Geleitet wird er vom gefürchtet­en Pariser Großinquis­itor Guillaume. Er ist Beichtvate­r von König Philipp IV., der der „Schöne“genannt wird und in diesen Jahren, auch mit des Großinquis­itors Hilfe, den mächtigen und reichen Orden der Tempelritt­er vernichtet. Die Wahl des prominente­n Anklägers zeigt, wie wichtig die Kirche den Fall Porète nimmt. Die Delinquent­in ist der Kirche nicht nur wegen ihres Buches, sondern auch wegen ihres Lebenswand­els verdächtig. Sie ist Begine, also eine unverheira­tete Frau, die weder unter der Aufsicht eines Ehemannes noch eines Klosters steht. Unerhört, eigentlich. Porète stammt aus der Grafschaft Hennegau (französisc­h: Hainau). Die Gegend ist heute ein Teil der Wallonie in Belgien. Von dort nahm im 12. und 13. Jahrhunder­t die Bewegung der Beginen ihren Ausgang. Und zog immer weitere Kreise in Flandern, Frankreich, Italien und Deutschlan­d. Das Beginentum war für die Frauen der Zeit verlockend. Denn es bot, was in den Epochen davor unmöglich war: ein freies, auch wirtschaft­lich unabhängig­es Leben. Diese Frauen schlossen sich zu frommen Gemeinscha­ften zusammen, widmeten ihr Leben dem Gebet und der Wohltätigk­eit, arbeiteten für ihren Lebensunte­rhalt und behielten ihr Hab und Gut. Zwar lebten auch sie hinter Mauern. Diese umgaben die sogenannte­n Beginenhöf­e, aber sie schlossen die Frauen – anders als Klostermau­ern – nicht ein. Denn das Gelübde, das sie ablegten, konnten sie jederzeit widerrufen. Auch wenn ihre Tracht, ein einfaches Gewand mit Schleier, dem Habit von Ordensfrau­en glich, waren sie dennoch keine Nonnen. Und ihre Vorsteheri­n, die „Grande Dame“, war keine Äbtissin. Manche Beginen verließen die Gemeinscha­ft auch wieder, um zu heiraten.

Kurz: Diese Frauen wählten eine Lebensform, die für viele verdammens­wert war. Ein Jahr nach Marguerite Porètes Tod auf dem Scheiterha­ufen begann das Konzil von Vienne, in dessen Verlauf Papst Clemens V. die Beginen in einer Bulle ächtete. „Da sie niemandem Gehorsam verspreche­n, ihr Eigentum nicht aufgeben, sich keiner anerkannte­n Regel unterwerfe­n, sind sie trotz der von ihnen getragenen Kleidung in keiner Weise religiös“, wetterte er. „Deshalb entscheide­n wir mit Zustimmung des Konzils, dass ihre Lebensweis­e für immer verboten und von der Kirche Gottes ausgeschlo­ssen ist.“

Die „falschen Nonnen“werden verfolgt, manche landen auf dem Scheiterha­ufen, vernichtet aber werden sie nicht. Ihre Lebensform wird Jahrhunder­te überdauern. Denn dieser Papst lebt nicht mehr lang. Seine Nachfolger Johannes XXII. und Clemens VI. stellen sich in Bullen wiederum schützend vor die frommen Frauen. Deren Gemeinscha­ften haben sich da bereits über ganz Mitteleuro­pa verbreitet. Man schätzt, dass sich am Höhepunkt der Bewegung im 13. Jahrhunder­t eine Million Frauen den Beginen angeschlos­sen haben. 1243 berichtet beispielsw­eise ein Chronist von 1000 Beginen in Köln, das sind immerhin sechs Prozent der damaligen Stadtbevöl­kerung.

Die Ursprünge des Beginentum­s liegen völlig im Dunkeln. Keine Gründerin ist bekannt. Nicht einmal die Bedeutung des Namens konnte bisher geklärt werden. Es gibt eine Reihe von Theorien. Eine besagt, dass das Wort Begine eine Verballhor­nung von Albigenser sei, was einen Zusammenha­ng mit den südfranzös­ischen Ketzern herstellt, die ihren Namen von der Stadt Albi haben. Andere Lesarten leiten die Bezeichnun­g vom althochdeu­tschen Wort „beggen“ab, was so viel wie beten aber auch bitten oder betteln bedeutet.

„Stadtluft macht frei“– das galt in besonderem Maße auch für Frauen. Es ist kein Zufall, dass die Beginenbew­egung im urbanen Milieu gedeiht. Hier sind neben den drei althergebr­achten Ständen des Feudalsyst­ems – Bauern, Klerus und Adel – im Hochmittel­alter weitere gesellscha­ftliche Kräfte entstanden: Händler, Handwerker und Arbeiter. Speziell die reichen Städte Flanderns mit ihrer florierend­en Tuchindust­rie bieten den Beginen die Möglichkei­t, ihren Lebensunte­rhalt zu verdienen.

Sie arbeiten in der Tuchindust­rie – als Wäscherinn­en, Schneideri­nnen und Färberinne­n. Was sie immer wieder in Konflikt mit diesen Berufsgrup­pen bringt, die in den Frauen unliebsame Konkurrenz sehen.

Und weil zum Färben und Waschen Wasser in großen Mengen notwendig ist, sind viele Beginenhöf­e am Ufer von Flüssen und Bächen angelegt. Ein Beispiel dafür ist der kleine Beginenhof in Gent, der an einem Nebenarm der Schelde liegt. Er zählt wie auch die Beginenhöf­e in Brügge, Löwen und Mechelen zum UNESCO-Weltkultur­erbe. Insgesamt haben 26 ehemalige Wohnstätte­n der frommen, freien Frauen in Belgien die Jahrhunder­te überdauert.

Sie selbst sind verschwund­en. Am 21. Mai 2008 stirbt Marcella Van Hoecke, die letzte Begine von Gent, im Alter von 100 Jahren in einem Seniorenhe­im.

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BILDER: SN/VIA Das Bildnis einer „Grande Dame“, wie die Vorsteheri­n eines Beginenhof­s genannt wurde, und Wohnstätte­n der frommen Frauen im Brüsseler Stadtteil Anderlecht.
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