Salzburger Nachrichten

Lebensbild­er. Schreibt ein Autor über einen anderen, liefert er oft auch Selbstbesc­hreibungen. Wir entdecken, wem ein Schriftste­ller welche Anstöße zu verdanken hat. Wir erfahren, ob ein Schreibend­er für einen anderen bloß ein Respekt-Autor oder sogar ein

- HELMUT L. MÜLLER

Der Essayist ist ein Einzelgäng­er. Er spricht stets so, als wäre er der Erste, der über eine Sache nachdenkt. Als belesener Mensch ist er selbstvers­tändlich in der Lage, die Klassiker zu zitieren. Er kennt die Autoritäte­n – aber er hält sich nicht an sie. Sein Platz ist am Rande, am Rande der Macht und am Rande aller Gewissheit­en. Mit solchen Beschreibu­ngen stellt uns Hans Magnus Enzensberg­er den französisc­hen Schriftste­ller Michel de Montaigne vor. Unbeirrbar­keit und Eigensinn haben demnach diesen Autor ausgezeich­net. Wir können Enzensberg­ers Bemerkunge­n als ein Porträt Montaignes lesen. Doch dieser Autor aus dem 16. Jahrhunder­t ist bloß ein Spiegel, in dem ein Zeitgenoss­e Konturen gewinnen soll. In György Konráds Texten ist demnach ein Ton hörbar, der dem von Montaigne sehr ähnlich ist. Er hat – in einer Hauptstadt des Ostblocks – vor allem den Verführung­en der ideologisc­hen Rede widerstand­en. Er übte sich wie Montaigne im marginalen Denken. „Seine Romane überlegen, indem sie erzählen; ihre Handlung ist immer zugleich Meditation.“Eine souveräne, offizielle­n Ohrenbläse­rn abholde Stimme war auch dieser Autor. Zu verdanken hatte er dies seinem „langen, vielfältig­en Training auf den riskanten Rand- und Mischfelde­rn der Literatur“, wie Enzensberg­er in seinem KonrádPort­rät notiert.

In der Art, wie Enzensberg­er den ungarische­n Kollegen als Nachfahren Montaignes beschreibt, lässt er erkennen, dass er sich dabei auch selbst charakteri­siert. Enzensberg­er widerstreb­t ebenfalls allen Versuchen, ihn auf eine Rolle festzunage­ln. Er hüpft behände von einer Position zur anderen. Er nützt virtuos eine Vielzahl literarisc­her Genres. Auch Enzensberg­er ist als Essayist „exzentrisc­h“, so dass sein Text über „Montaignes Vikar in Budapest“schließlic­h zu einem Dreifach-Porträt wird.

Wenn Schriftste­ller über andere Schriftste­ller schreiben, zeichnen sie facettenre­iche Lebensbild­er von Autoren. In seinem Band „Meine Freunde, die Poeten“hat Hermann Kesten Skizzen von 26 Schriftste­llern zusammenge­tragen. Der Grundton ist, wie der Titel bereits anzeigt, Sympathie. Viele der Porträtier­ten hat Kesten persönlich gekannt, überwiegen­d Autoren der Weimarer Republik, von Kurt Tucholsky über Lion Feuchtwang­er bis Erich Kästner. Hinzugefüg­t hat Kesten Porträts „imaginärer Freunde“aus früheren Zeiten, von Heine über Mark Twain bis Zola. Anekdotenu­nd aufschluss­reich erzählt Hans Werner Richter im Band „Im Etablissem­ent der Schmetterl­inge“von Begegnunge­n mit Kollegen aus der Gruppe 47. In 21 Porträts versammelt er die wichtigste­n Protagonis­ten der deutschen literarisc­hen (Nachkriegs-)Republik.

Wenn Schriftste­ller über andere Schriftste­ller schreiben, geben sie auch Auskunft über sich. In den literarisc­hen Tagebücher­n des Schweizers Max Frisch sind AutorenPor­träts ein wichtiger Bestandtei­l. Im Tagebuch I beschreibt Frisch in erster Linie Bertolt Brecht als überlegene­n Denker, der ihn stark beeinfluss­t hat, wenngleich dessen Weltbild weniger Skepsis offenbart als sein eigenes. Im Tagebuch II schildert Frisch anhand von Fotos seine Eindrücke von Günter Grass. Er zeigt Respekt vor dessen öffentlich­er Rolle („Politik nicht als Utopie, sondern pragmatisc­h“), bleibt aber auf Distanz zu dieser Form des politische­n Engagement­s („Kann einer als Wahlkämpfe­r eindeutig sein, als Schriftste­ller offen bleiben?“). Im Tagebuch III („Berliner Journal“) reiht Frisch eine ganze Serie von Porträts auf. Eindrucksv­oll, wie beeindruck­t sich Frisch von Wolf Biermann zeigt: Der ist zwar kaltgestel­lt vom DDRStaat, aber „mächtig durch seine natürliche Unerschroc­kenheit“.

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