Baum Bruder
Liebe deine Nächsten. Erwin Thoma verrät, wie Menschen im Wald ihr absolutes Glück machen können.
Ehe man den beschaulich-romantischen Ort Goldegg erreicht, weisen am Rand der Straße, die sich den Hügel hinaufwindet, nur ein paar Fahnen auf den Betrieb von Erwin Thoma hin. Sein Holz100-Konzept scheint im näheren Umfeld unterschätzt oder zumindest nicht sonderlich beachtet. Dabei hat er weltweit schon viel gebaut – vom Rathaus der holländischen Stadt Venlo bis zum Kindergarten im bayerischen Abensberg. Er hält Vorträge bei der Architekturbiennale in Venedig und der Internationalen Bauausstellung in Hamburg. Als er mit seinem Opa das Unternehmen gegründet hat, sei es ein wilder Existenzkampf gewesen. „Ich habe nicht gewusst, ob ich für den Skikurs meiner Kinder Ski kaufen kann“, denkt Thoma heute zurück.
In seinem Baumhaus zum Probewohnen schüttelt eine Mitarbeiterin die Betten aus. Durch das Panoramafenster sieht man die Grünschattierungen des Waldes. Die Bäume beginnen gerade mit den Wintervorbereitungen. Der Saftstrom wird eingestellt, Inhaltsstoffe lagerfähig umgebaut und alle Verholzungsprozesse sind abgeschlossen.
Das Firmengebäude daneben steht schon seit bald 20 Jahren hier. Viel Holz, zeitlos, robust und mit Pellets beheizt. Mittlerweile sind Thoma-Häuser so perfektioniert, dass sie energieautark und sogar ohne Heizung funktionieren können. Das ist natürlich einer ganzen Branche ein Dorn im Auge.
Erwin Thoma geht es nicht um Rezepte. Seine Bücher sollen keine klassischen Ratgeber sein. In seinem neuen Werk „Strategien der Natur“(Verlag Benevento) beschreibt er das System, das uns hervorgebracht hat, das uns umgibt und das wir gerade sehr effizient zerstören. „In den vergangenen zehn Jahren hat sich vieles verändert. Ökologisch, aber auch gesellschaftlich. In einer Rasanz, die ihresgleichen sucht“, sagt der Unternehmer. Soziale Schere, Plastik im Ozean, CO2 in der Luft, Migration – all das hält er für besorgniserregend. Doch dieser Mann ist ein Pragmatiker, ein Umsetzer. Und die negative Haltung schlägt rasch in eine konstruktive um. Denn er ist überzeugt: „Wenn ich in den Wald hineingehe, erlebe ich die Lösungsmöglichkeiten.“
Seine Basis ist die Ausbildung zum Forstwirt. Erst viel später hat er berufsbegleitend mit der Tochter Betriebswirtschaft studiert, inklusive Doktorat. „Die erzählen genau das Gegenteil von dem, was ich aus dem Wald weiß. Hier ist Wachstum sinnvollerweise immer begrenzt. In der Wirtschaft ist es exponentiell und das führt zu Zerstörung“, sagt er und zeigt auf einen Gruppe von Buchen neben uns. „Schau, als die noch klein waren, hatten sie einen Wettbewerb. Wer schafft es hinauf? Sobald die Krone ihren Raum gesichert hat, leistet sie nur mehr Dienst an der Allgemeinheit. „Wenn diese Buche registriert, dass ihr Same da unten aufgeht“, sagt er und streicht über das zarte Bäumchen. „Das ist unfassbar. Dann reduziert sie die eigene Aufnahme der Nährstoffe aus dem Boden, damit für die Kleine mehr übrig bleibt.“Es sind viel zu viele junge Bäume auf dem Fleckchen Erde aufgegangen. Höchstens zwei oder drei von ihnen werden Baumkronen ausbilden. „Welcher wird der erfolgreichste sein?“, fragt der gelernte Förster, um gleich zu erklären: „Es gibt im Wald eine Währung. Das Geld des Waldes ist Zucker, den der Baum bei der Photosynthese herstellt. Und zwar nicht zur Gaudi.“Durch den Buchenstamm vor uns fließen täglich mehr als 100 Liter Wasser nach oben. Das H2O wird zerlegt. Ein Viertel davon wird mit Zucker angereichert, fließt dann wieder nach unten und wird an die Mikroorganismen verteilt. „Der Baum, der es schafft, am meisten herzugeben, ist der erfolgreichste. Er kriegt am meisten Nährstoffe zurück“, sagt er. Die Wettbewerbslogik dreht sich ums Netzwerken. Hier zählt nicht, wer am meisten „Geld“hat, sondern wer die meisten „Freunde“hat. Wer rafft, stirbt in der Natur.
Apropos Sterben: Einigen Bäume setzen Trockenheit und Wetterextreme zu. Doch der Wald ist plastisch und wandelbar. Woran niemand denkt: die irrsinnige Holzmasse, die zu Boden kommt und – wenn sie verrottet – Kohlenstoff freisetzt. „Wenn diese Fichte umstürzt, weil sie der Sturm reißt oder der Käfer frisst, dann wird aus einem Kubikmeter Holz mehr als eine Tonne CO2. Jene, die der Baum vorher aufgenommen und gespeichert hat“, rechnet Thoma vor. „Baue ich hingegen ein Haus damit, bleibt es jahrhundertelang gebunden“, meint er und appelliert sogleich: „Wir müssen in Windeseile unsere Baukultur ändern. Sie ist eine der wenigen wirklich effizienten Möglichkeiten, die wir haben, den Klimawandel aufzuhalten!“Kein Sektor verursacht so viel Abfall, den die nächsten Generationen entsorgen müssen. Es gebe also keine Alternative, als Zement, Ziegel
und Stahl durch Holz zu ersetzen, wo es geht.
Wo die Vormittagssonne durch die Bäume auf eine Ausbuchtung des Waldwegs fällt, sagt Thoma: „Da ist ein schönes Platzl – da müsste jetzt eine Schulklasse sitzen. Und Strömungslehre lernt man am besten hinten beim Bacherl, nicht im Physiksaal.“Er beginnt zu überlegen, was Viktor Kaplan über seine Erfindung der Kaplan-Turbine schrieb: „Und als ich die Sprache der Bächlein verstand, die Weisheit der Schöpfung mit Ehrfurcht empfand ...“
Er selbst wurde in Radstadt geboren und ist in Bruck an der Glocknerstraße aufgewachsen. Das ehemalige Bauerndorf sei zu einem modernen Industrie-Gewerbe-Konglomerat mit Zell am See zusammengewachsen. Die Strukturen seien uniform geworden, schildert der heutige Goldegger. „Der Pfarrer von damals wäre blass vor Neid: Die Gesellschaft ist wesentlich gläubiger“, meint er dann. „Wir glauben zu hundert Prozent ans Geld. Und dass man damit das Leben bewältigen kann. Das ist ein unglaubliches Ausrutschen unserer westlichen Gesellschaft.“
Thoma meint, wir hätten den Bezug zur Natur und zu ihren Lehren verloren. Das sehen wir auch, als wir aus dem Wald heraustreten: Zwischen den Almen und Weiden stehen neue Kleinfamilienhäuser. Die Thujenhecke rahmt die tausend Quadratmeter ein. Dazwischen läuft der Rasenroboter. Kein Gemüsegarten, keine Vögel. „Jedes Mal, wenn sich der Bauer einen neuen Traktor gekauft hat, hat er einen Baugrund verkauft. Der Bürgermeister hat brav umgewidmet“, sinniert Thoma. „Dann sitzen sie bei der Gemeinderatssitzung und lamentieren über das große Kanalnetz, das es braucht, weil der Ort so zersiedelt ist.“
Er wünscht sich, dass unbestechliche Experten der Bezirkshauptmannschaft eine kluge, verdichtete Flächenwidmung vornehmen. Und dann wird er wieder versöhnlich, angesprochen auf seinen Lieblingsbaum: Eine besondere Stellung habe die Fichte, nicht nur, weil sie jetzt so in Bedrängnis kommt. Als Flachwurzler überlässt sie den großen Raum den anderen. Ihre schmale Krone kämpfe auch nicht wie die mächtige Eiche. „Das Holz ist nicht so hart. Es ist eine unglaublich geniale Kombination aus Elastizität und Tragfähigkeit. In ihrer zurückhaltenden Körperform ist die Fichte ein guter Nachbar. Sie braucht am wenigsten Energie und kann beisammenstehen“, schwärmt Thoma. Ein Baum, der für die Kooperation steht.
Wie passend.