Dunkle Räume schnüren die Luft ab Was ist es? Kammerspiel oder wilde Orgie?
Verdis „Don Carlos“braucht Spannkraft, weiten Atem und reiche Farben. Im Herbst widmen sich vier Opernhäuser dem Werk.
Von draußen dringt kein Licht in diese Mauern. Wer den Escorial im Nordwesten von Madrid gesehen hat, mag vor dem abweisenden Gemäuer, kalt und steingrau, wenn einmal kein Sonnenlicht drauffällt, Fenster schmucklos wie Schießscharten, tatsächlich abgeschreckt sein. Darin ereignete sich die kalte, fühllose, von der Inquisition gnadenlos exekutierte Machtpolitik des Königs Philipp II. von Spanien. Da hat, menschlich betrachtet, auch die Liebe keine Chance.
Aber gerade aus dem Aufeinanderprallen von Öffentlichkeit und Privatheit, Freiheitssehnsucht und Einschnürung der Gefühle, kühnen Gedanken von einer „anderen“, besseren, freieren Welt und hartherziger Tat lässt sich der Stoff für ein vielschichtiges Drama entwickeln. Friedrich Schiller hat ihn im „Don Carlos“, den er „dramatisches Gedicht“nannte, so umfangreich wie unerbittlich gebannt. Giuseppe Verdi hat ihm in langem Ringen zwischen französischer Grand Opéra (fünfaktig) und italienischer Fassung (in vier Akten) musikdramatische Gestalt gegeben: ein mächtiges, kühnes, aber auch über die Maßen heikles Stück Oper. Zum Spielzeitbeginn hat „Don Carlo(s)“große Saison. Vier europäische Opernhäuser eröffnen mit dem Werk – teils auch neue Intendanzen: die Flämische Oper Gent und Antwerpen, Graz, Nürnberg und demnächst Stuttgart. Und alle Trümpfe hat, zu Ostern 2020, Christian Thielemann bei den Salzburger Osterfestspielen in der Hand.
Kein Licht von draußen dringt auch in die Räume, die Gideon Davey in Graz (eine starre, abschreckend braun holzgetäfelte Kammer, in der verschiebbare Wände bedrohliche Enge herstellen können) und Mathis Neidhardt in Nürnberg entworfen haben. Diesfalls sind es vier bühnenhohe, ebenfalls düster braun finstere Paneele, die mittels Drehung auf der Rückseite auch eine grelle, neonbeleuchtete, kahle Schleiflack-Weiße bilden können.
In Graz entwickelt die stets psychologisch minutiös kalkulierende, den Menschen und ihren äußeren und inneren Konflikten zugewandte Regisseurin Jetske Mijnssen ein bedrückendes Kammerspiel gebrochener, zerstörter, orientierungsloser, vereister Seelen. Ein Zueinander oder Miteinander wird weitgehend ausgeblendet, man redet und agiert auf sich allein gestellt durch Mauern und Türen.
In Nürnberg nutzt der regieführende Intendant Jens-Daniel Herzog (der bei den Osterfestspielen „Die Meistersinger von Nürnberg“in Szene gesetzt hat) den Schauplatz hingegen für eine klischeehafte Darstellung, die mit handgreiflicher, ja auch übergriffiger Brutalität aufgeladen wird. Ein (zum Libretto hinzuerfundenes) Kind, die kleine Infantin, wird vom Vater-König permanent gezwungen, dem sinnlosen Morden ins Auge zu blicken. Zwingt Mijnssen in Graz zum genauen Hinschauen, erzielt Herzog in Nürnberg das Gegenteil: Man möchte wegschauen, aber nicht wegen der offen gezeigten Härte der Aktionen, sondern wegen der hanebüchenen, plakativen Machart.
Zwei hochgepriesene Chefdirigentinnen ringen indessen damit, wie schnell Verdi Grenzen aufzeigt. Weder Oksana Lyniv in Graz (in der italienischen Version) noch die soeben zweifach zur „Dirigentin des Jahres“gekürte Joana Mallwitz in Nürnberg (mit der fünfaktigen französischen Fassung) bekommen das vielgestaltige Klangpanorama wirklich zwingend in den Griff.
Lyniv verlegt sich, in spürbarem Einklang mit der Regie, auf die dunklen, lastenden Farben der Partitur, gewinnt so der Oper eine finstere Dramatik ab. Auch wenn kompositorische Seitenstränge, erlesene Soli fein hineingewoben werden, mangelt es bei aller Virtuosität der Grazer Philharmoniker letztendlich am sinnfällig überzeugenden, kontrastreichen Bogen. Mallwitz zieht von Anfang an das Tempo straff, lässt interessante Details aber, je länger, je mehr, an der Knall- und Schallmauer der schmerzhaften Lautstärke zerschellen. Eine seltsame, unerwartete Enttäuschung.
Die sich an beiden Häusern fortsetzt in der Sängerbesetzung. Sie findet da wie dort keinen idiomatischen Verdi-Ton, womöglich auch wegen der weitgehend slawischen Stimmfärbungen. Mykhailo Malafii schluchzt und schleift sich in Graz eher angestrengt durch die Titelpartie, Tadeusz Szlenkier wird in Nürnberg zum robust und klanghart seinen Part abliefernden Antihelden. Es wird in Nürnberg überhaupt gern lauthals losgelegt statt differenziert gesungen: vor allem von Nicolai Karnolsky als Philipp, dem Sangmin Lee als Posa kaum nachsteht. Da sind in Graz der imposante finnische Bass Timo Riihonen und Neven Crnić als auch baritonal wendiger Posa von besserer Statur und Ausstrahlung. Dafür klingen an der Mur Aurelia Florian als Elisabeth und Oksana Volkova als Eboli (mit der sogar gezeigt wird, dass sie die Nacht mit dem König verbracht hat, wenn dieser seine berühmte Arie „Ella giammai m’amò“singt) zu ähnlich, wohingegen sich in Nürnberg Emily Newton als feminine Königin wider Willen von ihrer orgelnd auftrumpfenden Widersacherin Raehann Bryce-Davis nicht nur als Figur deutlich absetzt. Verdis berühmte „Tinta“wird da wie dort pastos angerührt statt fein aufgetragen – und bleibt damit seltsam bis erschreckend blass.