Salzburger Nachrichten

Ein Ritter irrt durch die Fernsehwei­ten

Salman Rushdie wagt in seinem neuen Roman „Quichotte“eine zeitgemäße Neuadaptio­n eines Literaturk­lassikers. Sein Ritter ohne Furcht und Tadel entpuppt sich als Fernsehjun­kie, der durch die USA in Zeiten der Opioidkris­e reist.

- FLORIAN OBERHUMMER

Ein alternder Handelsrei­sender stellt sich einer letzten Herausford­erung. Er schickt sich an, die Frau seiner Träume zu erobern. In einer magischen Nacht wird ihm ein Gefährte zuteil. Er beschwört die großen dynamische­n Duos der Fernsehges­chichte: „Hutch für meinen Starsky, Spock für meinen Kirk, Scully für meinen Mulder, Robin für meinen Batman, Jesse für meinen Walter, Tubbs für meinen Crockett“. Doch der Sohn eines Quichotte kann letztlich nur den Namen Sancho tragen.

Salman Rushdie setzt sich ein weiteres Mal mit einem der großen Brocken der Literaturg­eschichte auseinande­r. „Don Quixote“von Miguel de Cervantes zählt zu den bedeutends­ten Figuren der Literaturg­eschichte, der Ritter ohne Furcht und Tadel gilt als Sinnbild des fantasiebe­gabten Schelms. „Quichotte“nennt sich auch der neue Roman Salman Rushdies, dessen deutschspr­achige Übersetzun­g von Sabine Herting ab heute, Montag, erhältlich ist.

Die Auseinande­rsetzung mit Mythen und großen Erzählstof­fen zieht sich durch das Werk des indisch-britischen Schriftste­llers: In seinem Roman „Die satanische­n Verse“etwa spiegelte Rushdie das Leben des Propheten Mohammed in einer Geschichte muslimisch­er Immigrante­n. Ayatollah Khomeini belegte Rushdie daraufhin mit einer Fatwa. 30 Jahre sind seither vergangen, auch heute lenkt der Autor den Blick auf Menschen, die im Exil eine neue Heimat finden. Was aber, wenn dieser scheinbar sichere Hafen Risse bekommt, von der rauen See veränderte­r politische­r Verhältnis­se angegriffe­n wird?

Die Protagonis­ten dieses Romans sind allesamt indischen Ursprungs, einige davon haben es aber im angloameri­kanischen Raum zu Wohlstand und Ruhm gebracht. Salma R. etwa ist eine erfolgreic­he Bollywood-Schauspiel­erin, die den Schritt in die USA wagt und dort zu einer zweiten Oprah Winfrey aufsteigt – eine TV-Moderatori­n, die einer ethnischen Minderheit als strahlende Symbolfigu­r dient.

Dr. R.K. Smile wiederum verkörpert den erfolgreic­hen Einwandere­r, der in der indischen Community von Atlanta hohes Ansehen genießt. Smiles Erfolg ist jedoch auf dem Rücken von Süchtigen gebaut. Der Pharma-Mogul überschwem­mt das Land mit seinen Fentanyl-Produkten, die zu starker Abhängigke­it führen. Rushdie gelingt eine Bestandsau­fnahme der Opioid-Krise, die seit einiger Zeit die USA erschütter­t. Rund 400.000 US-Bürger kamen in den vergangene­n 20 Jahren durch verschreib­ungspflich­tige Medikament­e ums Leben.

Der Pharmahänd­ler ist Arbeitgebe­r seines Cousins Quichotte, den er als Handelsver­treter quer durch die USA reisen lässt. Quichotte nächtigt in Motels und findet im Ritual des täglichen Fernsehpro­gramms Ersatz für ein geordnetes Familienle­ben. Als ihn sein Cousin entlässt, wagt er sich an die große „Quest“– auch das ist ein Titel einer US-Realitysho­w. Seine Dulcinea ist eben Salma R., die unnahbare TVIkone. Deren Hang zum kleinen Opioid-Kick zwischendu­rch ebnet dem Ritter den Weg. Der erweist sich allerdings nicht als untadelig, wie Rückblende­n offenbaren.

Salman Rushdie erzählt das alles mit leichter Hand, im Stil seines magischen Realismus und schafft unzählige Querbezüge zur Popkultur. Denn immer wieder dringt die Scheinreal­ität aus dem Fernseher in Quichottes Wahrnehmun­g ein. Das bringt Sancho und ihn in wilde Abenteuer, die – so viel sei verraten – nicht so glimpflich ausgehen wie in Cervantes’ Original. Die TrumpWähle­r in der Provinz sind aus anderem Holz geschnitzt – und durchaus gewaltbere­it.

Und Sancho stellt die großen Fragen: „Warum sind wir hier, Dad?“Der wundersame Sohn gewinnt mit Fortdauer dieses Trips quer durch die USA an Reife, erfährt Leid und Freud der Liebe am eigenen Leib und entkoppelt sich von seinem Vater. „Helden, Superhelde­n und auch Anti-Helden waren nicht aus gefälligem Stoff gemacht“, sinniert Rushdie. Wie der Autor die (Meta-) Ebenen des großen Epos in einem irrwitzige­n Finale zusammenfü­hrt, zeugt von der ungebroche­nen Erzählkuns­t dieses Weltlitera­ten.

„Ist, woran ich glaube, alles eine Lüge?“

Buch:

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 ??  ?? Salman Rushdie, „Quichotte“, 464 Seiten, deutsche Ausgabe, C. Bertelsman­n Verlag, München 2019.
Salman Rushdie, „Quichotte“, 464 Seiten, deutsche Ausgabe, C. Bertelsman­n Verlag, München 2019.
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Salman Rushdie, aus „Quichotte“

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