Auf den Spuren einer mutigen Großtante ohne Grab
Der Autor Martin Pollack weckt Erinnerungen an bemerkenswerte Menschen, die nie im Rampenlicht gestanden sind.
„Es geht mir darum, den Menschen ihre Geschichte zurückzugeben“, sagt der Schriftsteller Martin Pollack. Er recherchiert über das Schicksal jener, die nie im Rampenlicht gestanden sind. Für sein jüngstes Buch, „Die Frau ohne Grab“, hat er sich auf die Suche nach Spuren seiner Großtante Pauline gemacht. Deren Existenz sei von seiner Familie väterlicherseits nahezu totgeschwiegen worden, „weil sie die Einzige war, die keine überzeugte Nationalsozialistin und anständig geblieben war“, sagt Pollack.
Die Recherchen über Großtante Pauline, auch Paula, oder slowenisch Pavla, erwiesen sich als schwierig, weil die als schüchtern und etwas verschroben geltende Frau dermaßen zurückgezogen in Tüffer, slowenisch Laško, lebte, dass viele sie nur im Fenster ihres Elternhauses stehend, bis zur Hüfte kannten, sozusagen als Frau ohne Unterleib. Dass Pauline als 70-Jährige im Sommer 1945 von einem jungen Partisanen verhaftet und in das Konzentrationslager Hrastovec bei Marburg gebracht wurde, wo sie grausam zu Tode kam, ist eine bittere Ironie für Pollack.
In seinem Buch schildert er das konfliktbeladene Verhältnis von deutsch- und slowenischsprachigen Bewohnern in der ehemaligen Untersteiermark, die seit 1918/19 zu Slowenien gehört. Aus blindem Nationalismus, Ablehnung und rassistischer Volkstumspolitik entstand ein fataler Kreislauf – wie in vielen gemischtsprachigen Gebieten in Europa. Erst überfiel Adolf Hitler 1941 Jugoslawien und gab den Befehl, die Untersteiermark „wieder deutsch“zu machen. Dann kam das Kriegsende 1945 mit der deutschen Kapitulation, die faktisch das Ende für die deutsche Minderheit in dieser Gegend bedeutete. Dass Pauline und ihre Schwestern sich nie von ihren deutschnationalen Brüdern mitreißen haben lassen, erklärt Martin Pollack auch dadurch, dass sie nicht hatten studieren dürfen. An Universitäten herrschte ein nationalsozialistisch geprägtes Denken, mit dem die Studenten indoktriniert wurden.
Martin Pollack konnte durch den Besuch eines liberalen Internats eine distanziert kritische Einstellung zu seiner Familie entwickeln. Das dürfte nicht einfach gewesen sein, hatte er doch als Kind seine Großeltern geliebt und war in Linz, wie er sagt, als Stiefsohn des Malers Hans Pollack in den Zug gestiegen „und in Amstetten als Bast ausgestiegen, der begeistert als einer der Ihrigen begrüßt wurde“. Gewissermaßen aus Trotz entschied er sich für ein Slawistik-Studium.
Auch Pauline, die nicht wie ihre Brüder nach Österreich floh, setzte durch ihre späte Heirat mit dem Slowenen Franc Drolc einen entschiedenen Schritt. Martin Pollack beschreibt mit distanzierter Ironie das Leben seiner Familie mit allen Absurditäten – etwa, wie im Kreise überzeugter Nationalsozialisten ein halbjüdischer Verwandter oder slowenische Jagdfreunde herzlich aufgenommen wurden. Das Schicksal seiner Großtante Pauline führt bis zu einem Friedhof in der Nähe des Dorfs Voliĉina, wo sie in einer Ecke ohne Grab verscharrt wurde.
Das Exhumieren der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in Zentral- und Osteuropa zieht sich durch das Werk des 75-jährigen Autors aus Bad Hall, der auch als Übersetzer tätig ist und lang Korrespondent für das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“war. Im Buch „Kontaminierte Landschaften“zeichnet er eine Karte des Grauens von idyllischen Landschaften, unter denen Massengräber von Juden, Roma, Antikommunisten, Partisanen, aber auch Deutschen schlummern. „Ich bin ein Mensch, der immer schon zu Boden geschaut und alles aufgeklaubt hat“, sagt Martin Pollack, der in seinem Haus im Burgenland ganze Regale mit seinen Fundstücken füllt. „Ich bin wach und daher finde ich auch Kriegsrelikte.“Bereits sein Stiefvater habe Bombensplitter gesammelt und neben dem duftenden Obst im Keller gelagert. Martin Pollack ist wie ein Seismograph für Ungerechtigkeiten. Das Phänomen der Verdrängung beobachtet er in Slowenien gegenüber der Existenz der eigenen Massengräber sowie in Polen, wo Geschichte in Märtyrergeschichte ohne Pogrome umgewandelt wird.
Lange hat er gehadert, ob er die Geschichte seiner Großtante erzählen dürfe, und kam zur Erkenntnis: Alle Geschichten gehörten erzählt, „sonst werden wir in Mitteleuropa nie zusammenfinden!“. Am 4. Oktober erhielt Martin Pollack – gemeinsam mit Claudia Erdheim – den Theodor-Kramer-Preis für Schreiben in Widerstand und Exil. Lesung: mit Claudia Erdheim, heute, Montag, 19.30 Uhr, Stifter-Haus Linz. Ausstellung: „Kontaminierte Orte“, ab morgen, Dienstag, Architekturforum Oberösterreich, Linz, bis 21. 12.