Bis 2030 nur Ökostrom – das wird knapp
Österreichs E-Wirtschaft steht vor einem Systemumbau und warnt vor Verzögerungen.
Wie immer die nächste Regierung zusammengesetzt sein wird, sie muss sich rasch um die Umsetzung der Klimaziele kümmern. Bis 2030 will Österreich seinen Stromverbrauch zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen decken. Die E-Wirtschaft hält dieses Ziel für mehr als ehrgeizig. Um es zu erreichen, müsse die Windkraft verdreifacht, die Sonnenenergie verzwölffacht und auch die Wasserkraft noch um 15 Prozent ausgebaut werden. Dazu kommen dringende Investitionen in Stromnetze und neue Speichermöglichkeiten, um die schwer prognostizierbare Energie aus Sonne und Wind effektiv nutzen und gegebenenfalls ausgleichen zu können.
Doch die Genehmigungsverfahren dauern lang und der Widerstand gegen neue Windräder und Wasserkraftwerke wächst. Zugleich ist das österreichische Stromnetz 2019 bereits drei Mal an einem Blackout vorbeigeschrammt, weil es nicht mehr immer gelingt, die Stromnetze ausreichend zu stabilisieren. Zuletzt war es Anfang der vergangenen Woche so weit. Nur ein Eingriff Frankreichs hat größere Versorgungsprobleme verhindert.
Experten wie der emeritierte Energiewissenschafter der TU, Günther Brauner, warnen vor zu hohen Zielen und der Gefahr von Fehlinvestitionen.
„Es geht um mehr als ein paar Windräder.“Leonhard Schitter, Oesterreichs Energie
Vor ziemlich genau einer Woche, am 7. Oktober kurz nach 21 Uhr, ist Österreich knapp an einem Blackout vorbeigeschrammt. Im Hochspannungsnetz der Austrian Power Grid (APG) ist die Frequenz kurzfristig in Richtung der kritischen Grenze von 49,8 Hertz gesunken. Darunter beginnen sensible Anlagen automatisch herunterzufahren, was das Problem vergrößert. Verhindert hat das Frankreich, indem dort einige Industriekunden kurzfristig abgeschaltet wurden. Sekunden später startete irgendwo ein zusätzliches Kraftwerk und der Spuk war vorbei.
Elektrizitätsversorgung ist in erster Linie Physik. Damit der Strom wie gewohnt aus der Steckdose kommt, muss die Frequenz im Netz permanent auf 50 Hz gehalten werden und Erzeugung und Verbrauch müssen sich zu jedem Zeitpunkt die Waage halten. Mit mehr klimafreundlichem, aber schwer vorhersagbarem Wind- und Sonnenstrom im Netz – nicht nur in Österreich – und dem Ausstieg aus Kohleverstromung wird das schwieriger. Zu- und Abschalten von Kraftwerken bzw. Verbrauchern zum Ausgleich funktioniert nicht immer nahtlos. Pumpspeicher gibt es nicht überall und klassische Gaskraftwerke sind für den Stundenbetrieb nicht gebaut und rechnen sich nicht mehr.
„Der europäische Systemumbau passiert weitgehend unkoordiniert“, weiß APG-Vorstand Gerhard Christiner aus der Praxis. Auch Österreichs Bundesregierung hat sich vorgenommen, bis 2030 den gesamten Stromverbrauch (bilanziell) aus erneuerbaren Quellen, also Wasser, Wind, Sonne und Biomasse, zu decken. Ob das möglich ist und zu welchem Preis, darüber scheiden sich freilich die Geister.
Oesterreichs Energie, der Verband der Elektrizitätswirtschaft, hält das Ziel für sehr ambitioniert. Das Jahr 2030 sei für die Ziele beim Erneuerbaren-Ausbau ohnedies „schon jetzt nicht mehr haltbar, das wissen wir“, sagte der Verbandspräsident, Salzburg-AG-Chef Leonhard Schitter, im Rahmen eines Journalistenseminars. Die E-Wirtschaft stehe bereit, brauche aber politische Unterstützung. „Angehen müssen wir es“, betont auch Geschäftsführerin Barbara Schmidt, egal ob bis 2030 bilanziell 100, 95 oder 90 Prozent möglich seien.
Wie stark der Stromverbrauch in Österreich, trotz höherer Energieeffizienz, steigt, weil etwa im Verkehr stärker auf E-Autos oder beim Heizen auf Wärmepumpen umgestellt wird, ist strittig. Die E-Wirtschaft rechnet, dass in zehn Jahren 88 Terawattstunden (TWh) aus erneuerbaren Quellen kommen müssen, in der Klima- und Energiestrategie „mission2030“ist die Rede von 81 TWh, gegenüber 53 TWh jetzt.
Einigkeit herrscht darüber, dass massive Investitionen in erneuerbare Energien nötig sind. Nach Berechnungen der E-Wirtschaft muss drei Mal so viel Windstrom erzeugt werden wie derzeit, zwölf Mal so viel Solarenergie und auch Wasserkraft, die heute über 60 Prozent des Stroms liefert, muss ausgebaut werden. „Das heißt: Wir müssen gut zehn Jahre jeden zweiten Tag ein neues Windrad, alle drei Minuten eine Solaranlage (je 5 Kilowatt) und alle zwei Jahre ein Wasserkraftwerk in der Größe des Kraftwerks Freudenau errichten“, sagt Schmidt.
Theoretisch. In der Praxis werde vieles durch die Modernisierung bestehender Kraftwerke erledigt, sagt Karl Heinz Gruber, Wasserkraftchef beim Stromkonzern Verbund. Photovoltaikanlagen werde es auf Freiflächen und Gewerbedächern geben müssen und viel mehr Windräder. Genau dagegen nimmt aber der Widerstand stetig zu.
„Das Dilemma, dass Menschen am Freitag mit Fridays for Future für Klimaschutz auf die Straße gehen und am Samstag gegen Windkraft, müssen wir auflösen“, räumt Barbara Schmidt ein. „Regenerative Energie hat hohe Raumwirkung“, umschreibt Günther Brauner, emeritierter TU-Professor und Stromexperte, das Problem. Gelingen werde die Energiewende nur mit Verhaltensänderungen und „wenn sie von den Bürgern akzeptiert wird“, warnt der Techniker vor zu ehrgeizigen Zielen. Die E-Wirtschaft müsse einsehen, dass der Bau neuer Anlagen nicht von politischen Genehmigungsverfahren abhänge, sondern von Bürgerinitiativen. Brauner rät, einige Gaskraftwerke zu erhalten, da der Ausgleich nur mit Pumpspeichern nicht zu schaffen sei.