Syrien greift in den Kampf zwischen der Türkei und den Kurden ein
Der ehemalige Weltpolizist USA sucht im Norden Syriens überstürzt das Weite. Ohne Rücksicht auf humanitäre und militärische Verluste.
Die Lage im Norden Syriens spitzt sich zu. Fünf Tage nach Beginn der türkischen Offensive haben Kurdenmilizen die syrische Regierung um Hilfe gebeten. Deren Soldaten sind bereits nahe der Grenze zur Türkei aufmarschiert. Eine direkte Konfrontation syrischer und türkischer Truppen wird nicht mehr ausgeschlossen.
Militärisch könnte die Türkei die vom Bürgerkrieg geschwächte syrische Armee überrollen. Zentral ist die Frage, wie die Alliierten Syriens, vor allem Russland, reagieren. Moskau setzt auf eine diplomatische Lösung und steht im direkten Kontakt mit Ankara. Die USA fahren weiter einen Schlingerkurs.
WASHINGTON. Der Präsident der größten Militärmacht weltweit war gerade auf dem Weg zum Golfplatz, als sein Verteidigungsminister im Fernsehen die weiße Flagge hisste. „Es wird jede Stunde schlimmer“, beschrieb Mark Esper am Sonntag die Lage im Norden Syriens: Die 1000 US-Soldaten in der Region seien in eine „unhaltbare“Lage geraten und würden deshalb abgezogen – „so sicher und schnell wie möglich“. Fünf Jahre lang hatte das amerikanische Militär gemeinsam mit Kurdenmilizen versucht, diesen Teil des Bürgerkriegslandes zu stabilisieren. Nun sucht der einstige Weltpolizist überstürzt das Weite. Es ist eine Flucht ohne Rücksicht auf humanitäre und militärische Verluste.
Verantwortlich für die abrupte Kehrtwende ist der Präsident persönlich. Vor gut einer Woche hatte Donald Trump seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdoğan freie Hand für eine Invasion im nordsyrischen Grenzgebiet gegeben. Mit der Einschränkung: Mögliche ethnische Säuberungen durch die türkische Armee werde er mit seiner „großartigen und unvergleichlichen Weisheit“verhindern.
Tatsächlich dringt das türkische Militär brutaler als erwartet in Syrien ein. Die einstmals mit den USA verbündeten Kurden schlagen sich nun auf die Seite der von Russland und dem Iran gestützten Regierung in Damaskus. Anders als Trump behauptet, haben die USA nach Recherchen der „New York Times“auch nicht mehrere Dutzend hochgefährliche IS-Gefangene rechtzeitig aus dem Kampfgebiet geschafft, sondern nur zwei. Am Wochenende soll bereits Hunderten Kämpfern die Flucht aus bislang von den Kurden bewachten Lagern gelungen sein. „Es herrscht das totale Chaos“, sagte ein hoher Regierungsvertreter der „Washington Post“. Trotzdem versucht Trump, den hektischen Rückzug als politischen Erfolg zu verkaufen. „Es ist sehr schlau, ausnahmsweise einmal nicht in die intensiven Gefechte entlang der türkischen Grenze verwickelt zu sein“, twitterte er.
Doch das Image des vermeintlichen Pazifisten im Weißen Haus hat tiefe Kratzer. Viele Kritiker in den USA werfen dem Präsidenten vor allem vor, die verbündeten Kurdenmilizen verraten zu haben und sämtliche Erfolge im Kampf gegen den IS zu gefährden. „Unsere Außenpolitik ist käuflich, unsere Alliierten wurden betrogen, unser Militär wird zum Rückzug befohlen und unsere Nation ist gedemütigt“, kommentierte der neokonservative Kolumnist Bill Kristol bitter.
Nicht nur Demokraten, auch Parteifreunde Trumps äußern nicht nur hinter verschlossenen Türen scharfe Kritik. So distanzierte sich der republikanische Senator Lindsey Graham, ein enger Vertrauter und Golf-Partner des Präsidenten, von Trump. Allein die Terrormiliz IS, der Iran und Russland würden von der Entwicklung profitieren, sagte er. „Ein Albtraum für Israel.“
Angesichts der dramatischen Lage im syrischen Grenzgebiet macht Graham nun mit anderen Kongressangehörigen mächtig Druck für Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei. Eine überparteiliche Mehrheit in den beiden Häusern des Kongresses scheint erreichbar. „Große Sanktionen gegen die Türkei kommen“, twitterte am Montag plötzlich auch Trump. Der Präsident würde damit im schwindelerregenden Slalom seiner Außenpolitik die bislang wildeste Kurve hinlegen: Erst vor wenigen Tagen hatte er die Türkei überschwänglich als „großen Handelspartner“gelobt und Erdoğan für November ins Weiße Haus eingeladen.