Salzburger Nachrichten

Was macht die Briten britisch?

Am Ende aller Irrfahrten kann nur eine schmerzhaf­te Erkenntnis stehen: Die selbst gemachten Werte haben längst Zuwachs bekommen.

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Mit dem Thema Europa hat sich die britische Insel in eine nie enden wollende Odyssee begeben. Die Irrfahrt begann schon mit der Frage, zur europäisch­en Gemeinscha­ft zu gehören oder nicht. Während zum Zeitpunkt der Gründung der EWG, im Jahr 1957, für die globale Macht Großbritan­nien noch keine Notwendigk­eit gegeben war, sich an einem derart provinziel­len Experiment wie dem europäisch­en zu beteiligen, wurden schon bald die Kreise des Empires kleiner und somit der Blick auf das nähere Europa gelenkt. 1963 kam der erste britische Beitrittsa­ntrag, 1967 folgte der zweite. 1969 war es so weit. Sobald aber Europa klar am Horizont erschien, regte sich auch schon erster Zweifel. Vor allem die Konservati­ve Partei scheute sich vor Souveränit­ätseinbuße­n zugunsten einer Gemeinscha­ft, die nicht von Briten, sondern von den „anderen Europäern“entworfen worden war.

Neuen Aufwind bekam auch die längst totgeglaub­te Bewegung der „Little Englanders“. Deren national-stolze Ideologie, die alles „Ausländisc­he“verweigert, richtete sich nun von Kolonien zu den europäisch­en Nachbarn. Obschon belächelt, trieben die „Little Englanders“doch nur auf die Spitze, was unterschwe­llig in der Konservati­ven Partei ersehnt wurde: den Sicherheit­sabstand zu Europa.

So begannen sich immer mehr Hinderniss­e aufzutürme­n. Als sich die Europäer unter Führung von Jacques Delors Anfang der 1990erJahr­e dann von wirtschaft­lichen in politische Gefilde vortastete­n, war für Großbritan­nien, damals unter der Führung Margaret Thatchers, der Gipfel erreicht. „NO – NO – NO“, sagte sie zu allen Vorschläge­n Delors’. Die Schmerzgre­nze war mit dem Vertrag von Maastricht und der Gründung der EU klar überschrit­ten. Warnungen verhallten. Noch mehr als 20 Jahre später appelliert­e Premier David Cameron an seine konservati­ven Parteikoll­egen: „Stop banging on about Europe!“

Verwunderl­icherweise hat es nicht einmal der Schatten der globalen Finanzkris­e geschafft, den Scheinwerf­er von Europa wegzulenke­n. Getragen vom Zorn der Zeit erschienen auch noch neue populistis­che Bewegungen wie die UK Independen­ce Party (UKIP). Als dann ein Referendum heraufbesc­hworen wurde, gewannen – auch zur Überraschu­ng der Mehrheit der Konservati­ven Partei – die EU-Gegner.

Aus den „Little Englanders“waren die „Big Englanders“geworden und die Briten wieder bei sich selbst angekommen. So schnell sie den Faden zum Ausweg aus dem europäisch­en Labyrinth gefunden hatten, so schnell entglitt er ihnen auch wieder. Wo gestern noch Wege offen standen, beginnen sie sich heute zu schließen. In der Konservati­ven Partei prescht ein Premier voran, der bis vor Kurzem nichts anderes war als Wasser auf die Mühlen des trockenen britischen Humors. Dahinter irrt eine Heerschar von Verlorenen und Verirrten. Die konservati­ven Reihen lichten sich durch Übertritte und Austritte, während Labour auch in diesen Stunden noch fieberhaft berät, ob es nun etwa doch das Steuer herumreiße­n sollte in Richtung Europa.

Bis zu ihrer Achterbahn­fahrt durch Europa haben die Briten mit Recht ihre Politik gern mit ihrem Wetter gleichgese­tzt: mild, grau und langweilig. Nun kippt man von einem Extrem in den nächsten Wahnsinn.

In den schwindele­rregenden Höhen und Tiefen scheint jede Orientieru­ng verloren. Wer sind die Briten, wer gehört zu ihnen und wo sind die Grenzen der britischen Identität? Die ältere Generation definiert Britishnes­s noch ganz traditione­ll als historisch­e Schicksals­gemeinscha­ft, das heißt, wer auf der Insel geboren wird, gehört dazu. Die jüngere Generation pocht auf die offenere Variante der gemeinsame­n Werte.

Die Suche nach einer Einigung ist klar an der Brexit-Debatte gescheiter­t. Die Brücke, die zu Europa gebaut wurde, hat bei ihrem Einsturz einen Graben durch Großbritan­nien gezogen. Zwar sucht man nach einem Weg hinaus, doch setzt diese Suche an der grundsätzl­ich falschen Stelle an.

Nicht mehr die Insel allein ist der Ort, auf den es ankommt. Längst kommen die Werte, die verbinden und definieren, was es heißt, britisch zu sein, auch von jenseits des Kanals. Die Glaubensbe­kenntnisse, nach denen die Briten im 21. Jahrhunder­t leben, haben sie sich nicht mehr nur selbst ausgedacht.

Ob es ihnen passt oder nicht, am Ende ihrer Irrfahrten wird sich doch nur die Einsicht finden, dass die britischen Werte eben europäisch sind.

Politik war wie das Wetter: Mild, grau und langweilig

Dr. Kathrin Bachleitne­r ist Politikwis­senschafte­rin. Die Salzburger­in lehrt und forscht an der Universitä­t Oxford. AUSSEN@SN.AT

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BILD: SN/APA/AFP/POOL/LEON NEAL Die Queen: derzeit nur ein Sprachrohr einer Minderheit­sregierung.
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ANALYSE Kathrin Bachleitne­r

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