Irlands Premier bestimmt über Brexit-Lösung
Die EU zeigt sich solidarisch mit ihrem Mitglied. Und Großbritannien musste lernen, dass es Irland nicht einfach übergehen kann.
LONDON, DUBLIN. Als Leo Varadkar zum ersten Mal in der Downing Street Nummer 10 zu Besuch war, dem Sitz der britischen Premierminister, konnte er seinen Enthusiasmus kaum verbergen. Zu sehr erinnerte ihn das Gebäude an eine Filmszene aus der Hollywood-Komödie „Tatsächlich Liebe“, in der Hugh Grant die Treppe heruntertanzt. Nun wurde Varadkar selbst und ganz offiziell in der Machtzentrale des Königreichs empfangen. Das war im Juni 2017. Kurz zuvor war der damals 38-jährige Chef der irischen konservativen Fine-Gael-Partei zum bisher jüngsten Premierminister Irlands gewählt worden.
Und natürlich führte der erste Trip zum Nachbarn ins Königreich, dem engsten Partner Irlands. Während Varadkar bei der Pressekonferenz wie ein Fan von seiner Begeisterung über den Ort erzählte, stand die damalige Premierministerin Theresa May beinahe gerührt lächelnd neben ihm. May ist Geschichte, der mittlerweile 40 Jahre alte Varadkar dagegen ist die Schlüsselfigur in den Brexit-Verhandlungen.
Die EU steht geschlossen hinter Irland und seinem Premier. Was für Irland akzeptabel ist, ist es auch für Brüssel. Und was für Irland eine rote Linie ist, ist es ebenso für die EU.
Für die Briten bringt die europäische Solidarität die historisch erstmalige Erfahrung, dass sie Irland nicht notfalls übergehen können.
Dublin wäre am meisten und direktesten von einem ungeordneten Brexit betroffen. Irland teilt eine mehr als 500 Kilometer lange Landgrenze mit Großbritannien und dessen Provinz Nordirland. Die Erinnerungen an die schlimmen Zeiten, als der Nordirland-Konflikt die Region mit Gewalt und Terror überzog, sind zwar verblasst, aber längst nicht vergessen, geschweige denn die Taten verziehen. Eine befestigte Grenze soll unbedingt vermieden werden. Zudem ist Irland mit Großbritannien wirtschaftlich eng verflochten.
Ein Treffen zwischen Varadkar und seinem britischen Counterpart Boris Johnson am Wochenende brachte frischen Wind in die fast schon abgeschriebenen Brexit-Gespräche. Ein Kompromiss sei in greifbarer Nähe, befand der Ire.
Varadkar steht trotz aller Solidarität aus Brüssel unter enormem Druck. Es sei nicht auszuschließen, so die Befürchtung in Dublin, dass die EU aus Ungeduld oder Frustration in letzter Minute doch noch auf Forderungen Großbritanniens eingehen könnte. Umso mehr steht Varadkar unter enormem Druck, eine Einigung zu finden. Bislang scheint er ihm standzuhalten.
Die Popularitätswerte des Sohns eines indischen Vaters und einer irischen Mutter, aufgewachsen in einem Vorort von Dublin, steigen seit Monaten. Mehr als die Hälfte des Wahlvolks ist zufrieden mit dem Taoiseach (ausgesprochen in etwa: Tiischak), wie der irischsprachige Titel des Regierungschefs lautet. Das liegt vor allem am Brexit-Drama beim Nachbarn. Der Mitte-rechtsPolitiker Varadkar galt bis dahin eher als langweilig und unentschlossen.
Gleichwohl sehen ihn etliche Menschen als Gesicht des modernen Irland. Varadkar ist der erste offen schwule Premier in einem ehemals erzkatholischen Land, wo Homosexualität noch 1993 unter Strafe stand. 2015 stellte Irland nach einem Referendum die gleichgeschlechtliche Ehe jener zwischen Mann und Frau gleich. Der damalige Gesundheitsminister Leo Varadkar freute sich über eine „soziale Revolution“. Zwar hatte er sich kaum in die Kampagne vor dem Referendum eingemischt, doch sein Coming-out wenige Monate vor der Abstimmung hatte für viele Menschen Vorbildcharakter.
Varadkar, der vor seinem Wechsel in die Politik als Spitalsarzt gearbeitet hat, hält sich mit seinem Privatleben aber sonst zurück. Er gilt als Musterschüler, der eher über Inhalten brütet, als im Pub bei einem Pint Guinness weilt.
Für die EU-27 dürften das im Endspurt der Brexit-Verhandlungen gute Nachrichten sein.