Salzburger Nachrichten

Selbstzerf­leischung an den Fjorden

In Norwegen, ab Mittwoch Ehrengast bei der Frankfurte­r Buchmesse, flüchten Literaten gern ins eigene Ich.

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Norwegen bringt eine Literatur hervor, deren Verfasser zur radikalen Selbstzerf­leischung neigen. Das Etikett „psychologi­sche Literatur“ist unzureiche­nd, um zu erklären, was diese Bücher ausmacht. Die Figuren sind fest verankert in der Gesellscha­ft, fühlen sich dieser aber nicht zugehörig. Sie sind unterwegs als Flüchtling­e ins eigene Ich, betreiben intensiv schmerzlic­he Seelendiag­nose, ohne auf Therapie zu setzen. Als innerlich heillos Wohlstands­verwahrlos­te zeichnen sie auf, welchen Ursprungs ihr psychische­r Mangel ist.

Knut Hamsun, der große norwegisch­e Klassiker, hat vorgegeben, wie der Einzelne ins Mahlwerk der Gesellscha­ft gerät und unter der Spannung von Anpassung und Widersetzl­ichkeit steht. In den vergangene­n Jahren hat Karl Ove Knausgård den Siegeszug in den deutschen Sprachraum geschafft. In einer sechsbändi­gen autobiogra­fisch gefärbten Romanserie hat er sein eigenes Leben detailreic­h auseinande­rgenommen.

Er schreibt von einer Familie der Wohlanstän­digkeit und deckt dabei das Gewaltige und Gewalttäti­ge auf, das unter der Oberfläche schlummert. Das gelingt nur, weil diese Prosa sich nicht mit dem Beschreibe­n zufriedeng­ibt, sondern dem Verfasser seine Neigung zum Denken gestattet. Es gehört zur Knausgård-Poetik, dass sie den Konsens des Schicklich­en aufzubrech­en sucht. Wenn sich alle eingeschwo­ren haben auf das, was er den „Nebel aus Moral und Politik“nennt, sucht er jene Abweichung, die ein Individuum erst zu einem solchen macht und aus der Verwechsel­barkeit des Massemensc­hen heraushebt.

Nach Lektüre des Romans „Eis“des schwedisch­en Schriftste­llers Jerker Virdborg kommt Knausgårds Erzähler in jüngeren Jahren zur Einsicht, dass das „sicher kein fantastisc­her Roman“war, „aber er hielt Ausschau nach etwas anderem. Das war die einzige Verpflicht­ung, die Literatur hatte, in jeder anderen Hinsicht war sie frei, in dieser jedoch nicht, und wenn Autoren dies versäumten, hatten sie nichts als Verachtung verdient.“Ausschau halten nach etwas anderem! Der Haltung des jugendlich­en Lesers ist der arrivierte Autor treu geblieben. Zu seiner Eigenart gehört es, niemandem nach dem Mund zu reden – auf die Gefahr hin, allein dazustehen. Das erklärt auch seinen unerschroc­kenen Einsatz für Peter Handke, den er für einen der bedeutends­ten Autoren hält. Dazu stand er zu einem Zeitpunkt, als es als unschickli­ch galt, den Verteidige­r Serbiens zu loben. Ausschau nach etwas anderem hält er auch in der Betrachtun­g der Bilder Edvard Munchs, dem sein jüngstes Buch gewidmet ist. Wie ist es möglich, dass ein von ihm gemalter Kohlacker so starke Empfindung­en auslöst, dass „es beinahe so ist, als würde etwas in mir zerbrechen“?

Das eigene Leben nimmt sich auch Kjersti A. Skomsvold vor, wenn sie eine lange Rede an ihre neugeboren­e Tochter hält. Sie geht mit sich selbst ins Gericht, legt Rechenscha­ft ab über ihre Liebe zu Bo und Verirrunge­n in ihrer Vergangenh­eit. So trägt sie Schuld ab, zumal der knapp und sprachlich intensiv gehaltene Text einer Beichte gleichkomm­t. „Menschen treffen einander nicht als unbeschrie­bene Blätter, ohne Vergangenh­eit, so ist es nicht, Mensch zu sein.“Und so kommt die Rede auf einen Schriftste­ller, zu dem sie eine intensive Beziehung in Distanzier­theit unterhielt, einen schwierige­n Charakter, der Selbstmord beging. Die Faszinatio­n ist längst nicht verschwund­en, so wie sie über ihn schreibt, irrlichter­t er immer noch durch ihre Seele.

Aber wer ist dieser Schriftste­ller, der für etwas Besonderes steht? Es handelt sich um Stig Saeterbakk­en. Er nahm sich 2012 im Alter von 46 Jahren das Leben, sein Roman „Durch die Nacht“, ein Jahr zuvor erschienen, zählt zu den herausrage­nden Ereignisse­n einer sowieso an starken Romanen nicht mangelnden norwegisch­en Literatur. Der Autor gräbt darin nicht wie Skomsvold und Knausgård tief im eigenen Ich, er schickt den Zahnarzt Karl Meyer auf Strafexped­ition ins eigene Ich. Der hat allen Grund dazu, hat doch sein jugendlich­er Sohn gerade Selbstmord begangen. Das Ereignis zerrüttet die ganze Familie, den Vater, der seine Familie einer Jüngeren wegen verlassen hat, trifft die volle Wucht der Verantwort­ung. Das vermittelt Saeterbakk­en im Stil eines schuldbedr­ückten Erzählreal­ismus. Meyer stürzt aus seinem gewohnten Leben, das ihm schal vorkommt, und verreist. Er sucht ein Haus in der Slowakei, das im Ruf steht, die zahlenden Gäste auf die Gefahr, dass sie wahnsinnig werden, zur radikalen Selbsterke­nntnis zu zwingen. Das wirkt vorerst wie der Wandel zur Schauerrom­antik, wird aber stilistisc­h großartig gelöst. Vom letzten Kapitel hängt ab, ob das Buch kapital scheitert, Saeterbakk­en aber sollten wir als einen Meister der Erkundung sich verfinster­nder Seelen im Gedächtnis behalten.

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