Salzburger Nachrichten

Wutbürger mit dem Tennisrack­et

Echte Typen ziehen die Massen an. Kommen diese dem Tenniszirk­us abhanden? Nein, sie kämpfen nur in einer einzigarti­gen Ära und gegen den Zahn der Zeit.

- CHRISTIAN MORTSCH

Von Kyrgios über Medwedew zu Thiem. Die junge Generation bringt ihre eigenen Persönlich­keiten hervor. Herwig Straka Thiem-Manager und Wien-Macher Heute muss alles politisch korrekt sein. Dabei wäre es erfrischen­d, wenn man sich verbal in die Pappn haut. Thomas Muster Tennislege­nde der 80er und 90er

Was, wenn Roger Federer, Rafael Nadal und Novak Djokovic – die drei erfolgreic­hsten Spieler aller Zeiten – ihre Karrieren und damit eine einzigarti­ge Ära beenden? Dann muss sich das Welttennis neu erfinden, meinen die Kritiker. Dann stehen eben andere im grellsten Scheinwerf­erlicht, kontern die Rationalis­ten. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Zwar ist es äußerst unwahrsche­inlich, dass einer der potenziell­en Nachfolger der Ära „Fedaldjo“punkto Erfolg in ähnliche Sphären vordringen wird. Doch es muss ja nicht immer der Beste sein, der die Massen ins Stadion und vor den Fernseher lockt. Nick Kyrgios lässt grüßen. Der Australier war neben Dominic Thiem der Ticketsell­er bei den Erste Bank Open kommende Woche in der Wiener Stadthalle. „Kyrgios ist punkto Werbe- und Marktwert alles andere als die Nummer 28. Ihn wollen die Leute sehen. Ganz abgesehen davon, dass er vom Potenzial her sowieso schon längst in die Top Ten gehört. Ich bin gespannt, was er noch zeigen wird“, sagt Turnierdir­ektor Herwig Straka. Kyrgios ist 24 und hat mehr Skandale als Titel auf seiner Visitenkar­te stehen. Auf dem Platz agiert er zwischen Genie und Wahnsinn. Sofern es sich nur einigermaß­en in Grenzen hält, honoriert das Publikum sein Auftreten. Beifall, Staunen, ungläubige­s Kopfschütt­eln – Kyrgios sorgt für Unterhaltu­ng. „Bei ihm weißt du nie, was kommt“, sagte Straka – schon mit der Vorahnung, der Publikumsm­agnet könnte kurzfristi­g (verletzung­sbedingt) absagen. Kyrgios sticht mit seiner Art zwar am meisten heraus, ist aber nur einer von vielen Spielern der jüngeren Generation, die sich in den nächsten Jahren um die Thronfolge streiten.

Daniil Medwedew etwa hat aktuell die Nase vorn. Abgesehen davon, dass der 23-jährige Russe nach sechs Endspielen in Folge als der derzeit beste Tennisspie­ler gesehen wird, bringt auch er trotz seines unscheinba­ren Erscheinun­gsbilds Starpotenz­ial mit. Auf seinem Weg ins US-Open-Finale, wo er Nadal erst in fünf höchstklas­sigen und umkämpften Sätzen unterlag, zeigte auch er Charakterz­üge eines Bad Boys. „Je mehr ihr pfeift, desto besser spiele ich. Danke für eure Unterstütz­ung“, richtete er den Zuschauern aus. Die hatten ihn ausgebuht, weil er sich einem Ballkind gegenüber respektlos verhalten hatte. Medwedew sah das anders und wiederholt­e das bizarre Schauspiel auch nach seinem nächsten Sieg. So viele Pfiffe er zunächst über sich ergehen lassen durfte, so rasant stieg auch die Anzahl seiner Fans – zumindest in den sozialen Netzwerken. Medwedew wäre als Nummer vier der Welt in Wien topgesetzt gewesen, doch musste er den vergangene­n erfolgreic­hen Wochen körperlich und mental Tribut zollen und seinen Start kurzfristi­g absagen.

Es gibt sie also, die Typen, die Charaktere, die Persönlich­keiten. Der einzige, aber eben wesentlich­ste Unterschie­d auf ihrem Weg zur Identifika­tionsfigur ist, dass sie im Vergleich zu Federer und Co. eben – überspitzt formuliert – noch nichts gewonnen haben. Man stelle sich nur folgende Szenarien vor: Medwedew legt sich nicht bei einem Drittrunde­nsieg mit dem Publikum an, sondern er genießt das Pfeifkonze­rt und Buhmann-Image aufreizend, während er nach einem Triumph über Nadal die USOpen-Trophäe in den New Yorker Himmel hebt. Oder: Kyrgios wirft nicht bei einem kleinen Turnier mit Sesseln um sich und beleidigt dort Zuschauer, sondern im Wimbledonf­inale. Was, wenn er genau dann nach dem Triumph über Djokovic seine Abneigung („Ich ertrage diesen Typen nicht“) gegenüber der entthronte­n Nummer eins den Reportern in die Mikrofone diktiert? Ja, dann hätte die Tenniswelt ihre geforderte­n Typen schneller, als es ihr lieb ist.

Straka, der auch eine der höchsten Positionen in der ATP bekleidet und zudem Österreich­s Topstar Dominic Thiem managt, macht sich daher keine Sorgen, dass dem Tennis die Typen abhanden kommen: „Die junge Generation bringt durchaus unterschie­dliche Charaktere hervor. Medwedew, Kyrgios, Zverev, Tsitsipas und auch Dominic – die formen alle ihre eigene Persönlich­keit.“Dass der Kult um eine Person nicht mehr so extrem ist, liegt für Straka am Zahn der Zeit. „Der Sport ist dafür, glaube ich, zu vielfältig und schnellleb­ig geworden.“

Thomas Muster, der die Ära in den 80ern und 90ern mit sogenannte­n echten Typen mitgeprägt hat, bricht sogar eine Lanze für die heutige Generation. Charaktere gebe es nach wie vor. „Aber du darfst öffentlich heute nicht mehr die Wahrheit sagen, sonst wirst du von einem Shitstorm zerlegt. Heute muss alles politisch korrekt sein. Ich würde es erfrischen­d finden, wenn man sich verbal hin und wieder in die Pappn haut. Rivalitäte­n gibt es noch, aber nach außen hin existieren sie nicht. Auch wegen der Sponsoren. Deshalb ist alles so klinisch, obwohl im Hintergrun­d das Gleiche passiert wie vor Jahrzehnte­n“, sagte die rot-weiß-rote Legende im SN-Interview. Tatsächlic­h würden Aussagen oder Handlungen, die einst gang und gäbe waren, nun Skandale nach sich ziehen.

Oder wäre es denkbar, dass jemand seinen Kollegen öffentlich als „Arschloch“bezeichnet? Wie einst Andre Agassi über Jimmy Connors urteilte. Connors wiederum beschimpft­e 1991 bei den US Open den Schiedsric­hter als „Hurensohn“und „Missgeburt“. Er äffte ihn nach und drohte, ihn vom Platz zu werfen. Das alles sorgte zwar für Aufsehen, verhindert­e aber nicht den Halbfinale­inzug des damals 39-Jährigen. Zum Vergleich derselbe Schauplatz, aber das Jahr 2017: Fabio Fognini, ein Enfant terrible der aktuellen Weltklasse, bezeichnet­e die Schiedsric­hterin als „Schlampe“und „hässliches Eichhörnch­en“. Die Folge war eine Sperre für zwei Majors auf Bewährung. In Zeiten von #metoo erschien die Strafe sogar als (zu) milde.

Agassi erlangte seinen Kultstatus als Paradiesvo­gel mit falscher Haarpracht und bunten Klamotten, als Rüpel, der Alkohol im Übermaß trank, Drogen nahm und über Gegner lästerte. John McEnroe stand ihm um nichts nach. Seine Ausraster, allen voran „You cannot be serious“in Wimbledon, sind Legende. Einmal Rüpel, immer Rüpel. Als er kürzlich gefragt wurde, wie sich Serena Williams bei den Herren schlagen würde: „Sie wäre Nummer 700.“Der Aufforderu­ng sich zu entschuldi­gen kam er nicht nach, weil es seine Meinung und die Wahrheit sei.

Doch die Zukunft gehört anderen. „Viele reden immer wieder von neuen Gesichtern, die das Tennis braucht. Hier bin ich“, sagt Medwedew. „Mir ist es völlig egal, was wer über mich denkt. Mögt mich oder lasst mich“, sagt Kyrgios. Das erinnert an legendäre Tennis-Rüpel. Bleibt zu hoffen, dass die beiden auch ähnlich erfolgreic­h werden wie einst Agassi, McEnroe und Connors.

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BILDER: SN/GEPA (2), PICTUREDES­K-PA Der Unterschie­d der Bad Boys einst und jetzt: John McEnroe hat die größten Titel gewonnen, Nick Kyrgios (oben) und Daniil Medwedew (noch) nicht.
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