(N)Ostalgie-Fahrt in die Ukraine
Nach der Nacht im Zug erkundet man die Stadt am besten zu Fuß. Herzstück ist der Marktplatz: Mehr als 40 gut erhaltene Bürger- und Patrizierhäuser, großteils aus dem 16. Jahrhundert, säumen ihn. Es lohnt sich, die 408 Stufen des Rathausturms in der Mitte des Platzes zu erklimmen. Von dort hat man den besten Blick über das architektonische Juwel: Man erspäht die Oper mit ihrer Neurenaissance-Fassade und blickt über die unzähligen Kirchen der Stadt: Die armenische Kathedrale mit ihren pastellfarbenen Fresken, die lateinische oder die dominikanische Kathedrale mit ihrer markanten Barockkuppel. Die Fußball-EM 2012, bei der auch Lemberg ein Austragungsort war, brachte der Stadt einiges an Geld, um Gebäude im Zentrum zu sanieren. 1998 wurde die mittelalterliche Altstadt auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes gesetzt.
Die Stadt ist eine Mischung aus Ost und West, aus alt und neu. Und das Moderne und Kreative hat in der Stadt durchaus Platz. Nur einen Steinwurf vom alteingesessenen Wiener Kaffeehaus an der Freiheitsallee entfernt, lockt die „Kaffeemine“Besucher in den Untergrund. Die können hier mit Helmen ausgestattet in einem unterirdischen Stollenlabyrinth beobachten, wie tief in der Erde nach Bohnen geschürft wird. Das Ganze ist natürlich nur ein Gag. Skurrile Gastronomie, die Hipsterherzen höherschlagen lässt, findet man in Lemberg aber an jeder Ecke. Oder besser gesagt, in jedem Keller. Denn unter dem historischen Herz von Lemberg liegen mehrere Kilometer unterirdischer Gänge, die nun neu genutzt werden. Ins Untergrundlokal Kryivka kommt nur, wer auch das Passwort kennt. Als Belohnung gibt’s ein Stamperl Wodka. Im gleichen Haus zwei Stockwerke höher müssen Gäste erst an einer unscheinbaren Wohnungstür klopfen, um ins Freimaurer-Restaurant zu kommen. Dort öffnet ein Kartoffel schälender, Goethe rezitierender ukrainischer Opa im Bademantel die Türe. Durch eine winzige alte Sowjet-Küche gelangt man schließlich ins Restaurant, das damit wirbt, das teuerste in ganz Galizien zu sein. Wer aber um Rabatt bittet, dem streicht der Kellner die letzte Null von der Rechnung. Im „Haus der Legenden“steht ein alter Trabi auf der Dachterrasse, im Restaurant „36Po“schwimmen kleine Haie in einem dreistöckigen Aquarium an den Tischen vorbei.
Wer nicht bestellen, sondern ukrainische Gerichte selber kochen will, der ist bei Kateryna Lytvyniuk und ihrer Kochschule „Sil“richtig. Sie lädt Touristen in ihre Wohnung und bringt ihnen in einem abendlichen Kochkurs bei, wie man Borschtsch kocht und die halbmondförmigen Teigtaschen Wareniki füllt. Wer will, dem zeigt sie auch, woher die Zutaten dafür kommen. Sie führt Besucher über die Märkte der Stadt und lotst sie durch den bunten Trubel zwischen Obstständen, Metzgerei und Tuppergeschirr.
Die westukrainische Stadt mit rund 800.000 Einwohnern hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Die Machthaber wechselten oft. Die Bürger standen wechselnd unter der Herrschaft von Polen, Österreich-Ungarn, der Sowjetunion und Nazideutschland. Die Vergangenheit zeigt sich auch in den vielen Namen der Stadt: auf Deutsch Lemberg, in Polnisch Lwow, auf Ukrainisch Lviv. Etwas außerhalb des Zentrums liegt der Lytschakiwski-Friedhof auf einer Anhöhe. Beim Spazieren zwischen den prachtvollen Kapellen, Grabmälern und Gruften entsteht beim Lesen der Namen auf den Grabsteinen rasch ein Eindruck von der multikulturellen Vergangenheit der Stadt. Berühmte ukrainische, polnische, jüdische, russische, deutsche und österreichische Bürger der Stadt fanden hier die letzte Ruhe. Dass auf der andern Seite des Lands immer noch gekämpft wird, ist in Lemberg kaum präsent. Nur auf dem Friedhof wird es beklemmend bewusst. Ein Bereich ist für ukrainische Soldaten reserviert. Die letzte Reihe der Gräber ist noch frisch.