Salzburger Nachrichten

„Die EU war immer schon eine Baustelle“

Vor 25 Jahren ist Österreich der EU beigetrete­n. Ex-EU-Kommissar Franz Fischler blickt zurück und erklärt, welche Rolle eine österreich­ische türkis-grüne Regierung in Europa spielen könnte.

- Fischler: „In der EU hat man leider sicher versäumt, den Bürgern zu erklären, worin die Vorteile der Mitgliedsc­haft bestehen.“

WIEN. Franz Fischler war bis zum EU-Beitritt Österreich­s vor 25 Jahren Landwirtsc­haftsminis­ter, bevor er als EU-Kommissar nach Brüssel wechselte. Im SN-Gespräch erklärt der Präsident des Europäisch­en Forums Alpbach, warum die Beitrittsv­erhandlung­en zwischen EU und Österreich fast gescheiter­t wären, wo die Union nachbesser­n muss und weshalb die EU weiterwach­sen muss.

SN: Wie würden Sie einem heute 25-Jährigen die damaligen Gründe für den EU-Beitritt Österreich­s erklären? Franz Fischler: Für uns gab es damals drei Hauptgründ­e. Erstens: Wir wollten in Europa mitreden. Zweitens: Innerhalb der EU kann der Wohlstand viel besser gesichert und vergrößert werden. Und drittens: Österreich wollte zur damaligen Zeit der Osterweite­rung eine wichtige Vermittler­rolle spielen.

SN: Verstehen Sie, dass ein heute 25-Jähriger dem „Friedensun­d Wohlstands­projekt EU“keine Bedeutung mehr zumisst, weil das selbstvers­tändlich geworden ist? Nur weil Friede zum Glück selbstvers­tändlich ist, heißt das nicht, dass man sich nicht mehr dafür einsetzen muss. Aber es ist klar, dass es heute andere vorrangige Herausford­erungen in Europa gibt. Etwa die Klimafrage, die in Europa nur gemeinsam angegangen werden kann.

SN: Sehen Sie den europäisch­en Frieden aufgrund nationalis­tischer Tendenzen gefährdet? Ich sehe ein Risiko darin, dass man den Wert des Miteinande­rs und der

EU nicht mehr erkennt und glaubt, dass es alleine besser geht, wie es beim Brexit der Fall war. Nur können die Briten als zweitgrößt­e Volkswirts­chaft der EU vielleicht noch irgendwie außerhalb der EU zurechtkom­men. Wobei hier noch viel unklar ist. Für das kleine Österreich, das mitten in der Union liegt, wäre das katastroph­al. In der EU hat man leider sicher versäumt, den Bürgern zu erklären, worin die Vorteile der Mitgliedsc­haft bestehen.

SN: Hätten die österreich­ischen Beitrittsv­erhandlung­en auch scheitern können? Ja, durchaus. Vor allem die Franzosen standen auf der Bremse, weil sie Sorge hatten, dass der Einfluss der deutschspr­achigen Länder zu groß werden könnte. Hätte der damalige französisc­he Präsident Jacques Chirac auf stur geschalten, wäre es zu dem österreich­ischen Beitritt nicht gekommen. Der damalige Außenminis­ter Alois Mock hatte bereits verzweifel­t dem Fernsehen ein Interview gegeben, das aber nie gesendet wurde, wo er erklärt hatte: „Wir fahren nach Hause, die wollen uns nicht.“Gott sei Dank ist es nach intensiven Verhandlun­gen auf höchster Ebene zu einer Einigung gekommen.

SN: Österreich hat vor allem wirtschaft­lich vom EU-Beitritt profitiert. Aber was sind die Schattense­iten des Beitritts? Man muss sehen, dass der wirtschaft­liche Erfolg enorm ist, und man muss sagen, dass der Beitritt zudem einen Modernisie­rungsschub und mehr Weltoffenh­eit in Österreich ausgelöst hat. Negativ ist nach wie vor die Transitpro­blematik und manche überborden­de Bürokratie zu sehen. Aber man darf nicht glauben, dass diese Probleme ohne EU-Beitritt nicht bestünden.

SN: Man hat den Eindruck, dass die EU bei politische­n Entscheidu­ngen wahnsinnig träge ist. Etwa beim Klimaschut­z. Ja, die politische Entscheidu­ngsfindung in Brüssel ist nicht selten sehr träge. Es braucht eben Zeit, 27 unterschie­dliche Interessen unter einen Hut zu bringen. Doch bei der Klimapolit­ik agieren viele EU-Staaten, unter anderem auch Österreich, wesentlich träger als die EU.

SN: Brexit, Migrations­problemati­k, rechtsstaa­tliche Probleme in Mitgliedss­taaten. Die EU hat so viele Baustellen.

Warum soll sie trotzdem weiterwach­sen? Die EU war immer schon eine Baustelle. Es wäre naiv zu glauben, dass man erst über Beitritte reden kann, wenn es keine Baustellen mehr gibt. Man muss sich die Frage stellen, wo sich die potenziell­en Beitrittsl­änder, etwa auf dem Balkan, sonst hin orientiere­n. In Richtung Russland? In Richtung China? Das kann nicht in unserem Interesse sein.

SN: Wie wird Österreich heute innerhalb der EU gesehen? Momentan schaut man aufgrund der Regierungs­verhandlun­gen gespannt nach Österreich. Die türkisgrün­en Verhandlun­gen werden als interessan­tes Experiment gesehen. Eine türkis-grüne Regierung könnte Vorbild für andere Regierunge­n in Europa werden. Eine türkis-blaue Neuauflage hätte uns geschadet.

SN: Wie stehen Sie nun dem türkis-grünen Experiment gegenüber? Ich sehe das recht positiv. Ich glaube, dass durch diese beiden Parteien ein notwendige­s Gleichgewi­cht zwischen Wirtschaft­sinteresse­n und Umweltschu­tz hergestell­t wird. Außerdem gibt es eben nicht wirklich eine Alternativ­e.

SN: Kann dieses politische Experiment fünf Jahre lang funktionie­ren? Ja, das kann auf jeden Fall funktionie­ren. Nur leicht wird es nicht. Die Schwierigk­eit wird sein, dass man konstrukti­v mit den unterschie­dlichen Positionen umgeht. ÖVP und Grüne sollten sich schon im Vorhinein klare Spielregel­n auferlegen, wie im Falle von inhaltlich­en Meinungsve­rschiedenh­eiten miteinande­r umgegangen werden soll.

SN: Welche EU-Politik wünschen Sie sich von der nächsten Bundesregi­erung? Österreich sollte innerhalb der Union wieder eine aktivere Rolle spielen. Wenn kleine Staaten zusammenar­beiten, kann man auch als kleines Land eigene Initiative­n durchbring­en.

 ?? BILD: SN/NOVY/KURIER/PICTUREDES­K.COM ??
BILD: SN/NOVY/KURIER/PICTUREDES­K.COM

Newspapers in German

Newspapers from Austria