Türkei und Russland steuern auf eine Konfrontation zu
Die Zechen für die Muskelspiele in Syriens Nordwesten zahlen die Zivilisten.
Die Geschehnisse in Idlib könne man als Krieg bezeichnen, sagte der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan am Freitag. „Wir haben unsere Aktionen dort begonnen.“Von türkischen Truppen unterstützte Milizen waren zum Gegenangriff gegen das Assad-Regime vorgegangen – und wurden laut Angaben aus Moskau von russischen SU-24Kampfjets zurückgeschlagen.
Unklar ist, ob die Russen nicht auch Türken bombardierten und ob die Türken zuvor nicht auch Russen beschossen haben. „Wir wollen nicht über die schlimmsten Szenarien
reden“, sagte Kremlsprecher Dmitrij Peskow. Doch Moskau meldete „viele Kilometer lange“türkische Militärkolonnen auf den Straßen der Provinz Idlib.
In Europa befürchtet man Schlimmes. Vom EU-Budgetgipfel in Brüssel aus riefen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel gemeinsam den russischen Staatschef Wladimir Putin an, um ihn zu einem Gespräch mit seinem türkischen Kollegen zu überreden.
In Russland ist man erbost über die türkischen Schläge gegen Assads Soldaten, bei denen auch Artillerie und Panzer eingesetzt wurden. Videos der russischen Armee würden beweisen, dass die Türkei eine islamistische Miliz unterstütze, sagte der Moskauer Militärexperte Viktor Litowkin den SN.
Und Andrei Tschuprygin, Arabist an der Moskauer Hochschule für Wirtschaft, erklärt: „Im Gegensatz zu Russland agiert die türkische Armee in Syrien völkerrechtswidrig, ohne Einladung des legitimen Präsidenten Assad.“Der einzige Kompromiss sei, dass Türken abziehen.
Doch es gibt auch ein gewisses Verständnis dafür, wie wichtig Idlib für Erdoğan ist. „In der Provinz drängen sich bis zu vier Millionen Flüchtlinge aus anderen syrischen Bezirken“, schreibt das Portal RBK. „Wenn Assads Regime Idlib völlig besetzt, flieht ein großer Teil weiter in die Türkei.“
Zudem gilt Idlib als Hochburg islamistischer Rebellen, die die Türkei ausgebildet und bewaffnet hat. Sie jetzt im Stich zu lassen wäre eine innenpolitische Blamage für den türkischen Staatschef.
Die wünscht Erdoğan auch im Kreml niemand. Er gilt als Geheimverbündeter, lässt am Mittelmeer von Rosatom ein Kernkraftwerk bauen. Erst im Jänner eröffnete er mit Putin feierlich die Gaspipeline Turkish Stream, die Russland Richtung Südeuropa verlängern möchte. Und 2019 kaufte er zum großen Ärger der USA für 2,5 Milliarden Dollar russische S-400-Luftabwehrsysteme.
Man wolle keinen Konflikt mit den russischen Truppen, erklärte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar. Aber das Problem in Idlib sei nur zu lösen, wenn Russland „zur Seite“gehe. Akar denkt laut über PatriotLuftabwehrraketen nach, die die USA an die türkische Südgrenze schaffen könnten, um Erdoğans Luftwaffe zu unterstützen – und um Russlands Bomber zu bedrohen.
Die Zeche zahlen Zivilisten. Die Lage ist nach den Worten des Malteser Hilfsdienstes aussichtslos. Hunderttausende Vertriebene harren nach UNO-Angaben bei Kälte und Regen teils im Freien aus. Fast zwei Drittel seien Minderjährige.