Am Urmaß der Ökonomie wird wieder einmal gerüttelt
Ein Rat für Politiker: Wer nur aufs Bruttoinlandsprodukt starrt, kann sehr leicht übersehen, wie es den Bürgern tatsächlich geht.
Das Bruttoinlandsprodukt ist ein mächtiges Konstrukt. Es hat sich in den vergangenen neun Jahrzehnten so sehr als das einzige Maß für die Entwicklung einer Volkswirtschaft etabliert, dass es lang nicht hinterfragt wurde. Es gab zwar einige Anläufe, die Macht des BIP zu brechen, gelungen ist es nie. Aber selbst Ökonomen, die sich bei ihren Analysen gern auf Zahlen stützen, dämmert, dass der alleinige Fokus auf das BIP zu wenig ist, um abzubilden, wie sich ein Land wirtschaftlich entwickelt und vor allem wie es der Gesellschaft geht.
Daher steht das BIP, für dessen Entwicklung der Brite William Petty schon im 17. Jahrhundert Vorarbeiten leistete und das im Kern seit den 1930er-Jahren unverändert ist, seit einiger Zeit in Kritik. Doch selbst einer von Ex-Staatspräsident Nicolas Sarkozy 2008 eingesetzten Kommission unter Leitung der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen gelang kein Durchbruch. Jetzt versucht Dennis Snower, vormals Leiter des Instituts für Weltwirtschaft
in Kiel, mit einer Kollegin einmal mehr, zusätzliche Maßstäbe zu entwickeln.
Der Antrieb ist stets der Gleiche: Das BIP misst vieles, aber längst nicht alles, was Wohlstand ausmacht. Snower sagt, der wirtschaftliche und technische Fortschritt habe sich vom gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt entkoppelt. Daher ergänzt er das BIP um drei Indizes, je einen für individuelle Befähigung, gesellschaftliche Solidarität und ökologische Nachhaltigkeit. Um einen Wert zu berechnen, fließen in jeden Index zahlreiche quantitative und qualitative Daten ein. Gemeinsam mit dem BIP ergibt sich damit ein Quartett an Messgrößen, mit dem sich der Wohlstand einer Gesellschaft umfassender bestimmen lässt. Snower und seine Kollegin haben das für 35 Industriestaaten getan. Ein Ergebnis ist, dass in der Dekade bis 2017 in Großbritannien und den USA zwar der materielle Reichtum deutlich gestiegen, aber in beiden Ländern die Indizes für Solidarität und Befähigung stark gesunken sind. Das löse bei vielen Menschen zu Recht das Gefühl aus, vom Wohlstand abgehängt zu sein, sagt Snower. Er tritt nicht an, um die Macht des BIP zu brechen oder es neu zu definieren. Er stellt seine Indizes bewusst neben das BIP, um den Blickwinkel zu erweitern – auf das, was abseits der Produktion von Gütern und Dienstleistungen in einem Land passiert, oder eben nicht passiert.
Das ist mehr als eine ökonomische Fingerübung, sondern vielleicht ein Rettungsanker für etablierte Parteien im Kampf gegen Populisten, die das Volk mit falschen Versprechen verführen. Um zu wissen, ob eine Volkswirtschaft gewachsen ist, ist und bleibt das BIP das Maß der Dinge. Aber eine Politik, die sich allein danach ausrichtet, greift zu kurz. Es könnte sich für Regierende als Überlebensfrage erweisen, ihren Begriff von gesellschaftlichem Fortschritt und Wohlstand zu erweitern.