Undurchlässig
Rückblickend könnte ich fast meinen, die den traditionsreichen Industrieort Lend im Salzburger Land damals wirtschaftlich wie gesellschaftlich dominierende Aluminiumfabrik habe es regelrecht darauf angelegt gehabt, dass ich mir allein durch mein Aufwachsen in einer Arbeiterwohnung für meinen späteren Beruf als Autor ein Alleinstellungsmerkmal erwerben könne!
Und zwar nicht nur dadurch, dass die vier Personen unserer Familie in dieser Werkswohnung oberhalb des Gasthofs zur Post auf 32 Quadratmetern in Küche und Zimmer lebten. 1967 kam ein Kabinett überm Gang dazu. Weiterhin blieben wir ohne Vorraum, Badezimmer oder auch nur Warmwasser. Natürlich ohne Balkon, dafür Klo am Gang.
Weil all dies für ein Alleinstellungsmerkmal womöglich nicht reichen könnte, dachten sich die in den frühen 1960er-Jahren in der Firma für ein striktes hierarchisches System Verantwortlichen etwas aus, das mich sicher von vielen in meiner Autorenkollegenschaft mit ihren Erfahrungen aus der gehobenen Mittelschicht als Ärzte-, Anwaltsoder Lehrerkinder abheben würde: Die brillante Idee mit unübersehbarer Symbolkraft, in den Arbeiterwohnungen nur schwarze Lichtschalter und Steckdosen installieren zu lassen, in denen der Angestellten hingegen ausschließlich weiße! Und dies so lange beizubehalten, bis überhaupt kein schwarz gefärbtes Material mehr erhältlich war! – Wahrscheinlich hätten es die im Betrieb dafür Verantwortlichen auch akzeptiert, für das schwarze Installationsmaterial mehr zu bezahlen als für das weiße, obwohl durch die schwarze Farbe die Minderwertigkeit
der damit lebenden Menschen ausgedrückt werden sollte. Chancengleichheit bedeutete damals, dass Arbeiterkinder die gleichen Chancen wie ihre Eltern haben sollten, ebenfalls zu Arbeitern zu werden.
Dieses Symbol für die beabsichtigte gesellschaftliche Undurchlässigkeit kam mir vor geraumer Zeit wieder in den Sinn, als ich den ersten Text meines neuen Kolumnistenkollegen Clemens Sedmak las. Der Philosoph und Theologe führte Permeabilität – also Durchlässigkeit – als einen seiner Lieblingsbegriffe an. Er dachte dabei nicht an Physikalisches, sondern an die zwanglose Begegnung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen.
Wie sehr Menschen allerdings am Gegenteil hängen, erlebte ich selbst, als ich einige Jahre brotberuflich im Einkaufsmanagement in Lend arbeitete, bei einem ungarischen Lieferanten – damals immerhin Teil eines kommunistisch genannten Systems.
Die Tonerde, wichtiger Rohstoff für die Aluminiumproduktion, wurde auch aus Ungarn bezogen. Zum Abschluss eines großen Rahmenauftrags reisten die Manager des ungarischen Staatsunternehmens nach Österreich und drangen im Vorfeld darauf, bei den von uns zu reservierenden Zimmern unbedingt darauf zu achten, dass jenes für den Chauffeur keinesfalls über ein Badezimmer verfüge! Für uns hieß das Mehrarbeit, da in den vom Tourismus lebenden Nachbarorten von Lend damals kaum noch solche Unterkünfte angeboten wurden. Aber es gelang uns, diesen Wunsch nach Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ungleichheit – in einer doch klassenlosen ungarischen Gesellschaft – zu erfüllen.
Erst viel später vermochte ich zu ermessen, von welch fundamentaler Bedeutung meine Erfahrungen mit so rigoros gehandhabter Undurchlässigkeit gerade für meine Arbeit als Schriftsteller waren! O. P. Zier