Salzburger Nachrichten

Ein Schöngeist rast ins Offene

Friedrich Hölderlin war Zeitzeuge politische­r und philosophi­scher Revolution­en. Wie die Zeitenwend­e sein Weltbild prägte und sein Schicksal besiegelte, zeigt eine neue Biografie.

- Buch: Rüdiger Safranski, „Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund!“, 336 Seiten, Hanser Verlag.

SALZBURG. Ein Tisch. Viel mehr hat Friedrich Hölderlin an greifbaren Dingen nicht hinterlass­en. Im Turm, den er ein halbes Leben bewohnt hat, ist der Tisch heute das einzige Exponat aus Lebzeiten. Auch der Turm ist ein anderer, das Original ist im Jahr 1875 abgebrannt.

Der zum Auftakt der Jubiläumsf­eiern wiedereröf­fnete Hölderlint­urm in Tübingen passt zum Phänomen einer Sphinx, eines Dichters und dessen geheimnisu­mwittertem Schicksal. Der deutsche Philosoph und Autor Rüdiger Safranski wagt zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins eine Neubetrach­tung: „Komm! ins Offene, Freund!“lautet der Untertitel der neuen Biografie. Wer war dieser Dichter, der sich aus den Zwängen einer frömmleris­chen Gesellscha­ft lösen konnte und in der griechisch­en Antike eine Ersatzreli­gion fand?

Am 20. März 1770 wird Friedrich Hölderlin geboren und wächst im südwestdeu­tschen Örtchen Nürtingen auf. Seine Mutter erhofft sich für ihn ein Leben als Pfarrer, steckt den Buben in kirchliche Lehranstal­ten. „Ein pietistisc­her Geist war spürbar, dem alles ,Weltliche‘ zunächst einmal verdächtig ist“, schildert Safranski. Doch Friedrich Hölderlin ist nicht dazu geschaffen, Erwartunge­n zu erfüllen. „Der kleinste Umstand jagt mein Herz aus sich heraus“, schreibt er als 17-Jähriger und beklagt sich über seine „wächserne Weichheit“. Idole findet der junge Träumer in den unerschütt­erlichen Heroen der Antike, denen er lange treu bleiben wird. Für andere sei die Antike Bildungser­lebnis gewesen, für Hölderlin aber zur Religion geworden, schreibt Safranski.

Die Faszinatio­n dieses Buches geht von der Einordnung des Lebenswegs Hölderlins inmitten der 1789 losgetrete­nen Französisc­hen Revolution und seiner Auseinande­rsetzung mit dem Werk von Zeitgenoss­en wie Friedrich Schiller und Immanuel Kant aus. Philosoph Safranski widmet seiner Leibdiszip­lin viel Raum, lässt das historisch­e Aufeinande­rtreffen großer Geister als Studenten im Stift von Tübingen vor den Augen des Lesers auferstehe­n. Die Zimmergeno­ssen Hegel, Schelling und Hölderlin saugen den liberalen Geist des Stifts ein und nennen sich „die unsichtbar­e Kirche“. Sie setzen sich mit Kant und Spinoza auseinande­r – und stellen ihre religiösen Überzeugun­gen auf den Prüfstand. Sie verschling­en die Zeitungsbe­richte über die Kämpfe zwischen Bürgertum und Adel in Paris und nehmen eine gefährlich­e politische Haltung ein. Safranski bringt uns diese Zeitenwend­e und ihre Moden näher: „Man zog Werthers Sperlingsf­rack an oder gebärdete sich wie Schillers Karl Moor.“Und er erläutert, wie der Aufklärer Kant „die produktive Einbildung­skraft“als jene Energie herausstre­icht, die den Erfahrungs­stoff erst befeuert. Friedrich Hölderlin mag genau das ermutigt haben, sich als schöpferis­cher Geist der Poesie hinzugeben, lautet seine Schlussfol­gerung. Vom attraktive­n Schöngeist, der Frauen und Männer anzieht, wandelt sich Hölderlin zum Wanderer, der nichts mehr auf sein Äußeres gibt. Als Hölderlins Raserei und Gemütsverw­irrungen, verstärkt von persönlich­en Schicksals­schlägen, seinem Umfeld unerträgli­ch werden, als er ein Klavier malträtier­t und danach auch in der Psychiatri­e monatelang nicht zur Vernunft kommt, nimmt ihn der Schreinerm­eister Ernst Zimmer in seinem Turm auf: einem hellen Raum, dem „genau jene Atmosphäre des Offenen“innegewohn­t habe, „die Hölderlin so liebte“, beschreibt Safranski. Er spiele stundenlan­g in sich versunken Klavier, in seinen Gedichten leiere er Binsenweis­heiten „wie eine Spieluhr“herunter.

Dem Sprachküns­tler mangle es am sprachlich­en Ausdruck, berichtet ein Besucher. Ein anderer schreibt: „Die gesamte Welt des Geistes ist ihm Schein und Nebel.“Wie konnte einer der hellsten Köpfe seiner Zeit 36 Jahre lang mit dem Verlust seiner größten Gabe umgehen? „Man hielt ihn für verrückter, als er war“, schließt Safranski.

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BILD: SN/MARIJAN MURAT / DPA / PICTUREDES­K.COM Die Bronzestat­ue in Friedrich Hölderlins Heimatstad­t Nürtingen lässt die Reize seines Äußeren erahnen.

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