Ein Schöngeist rast ins Offene
Friedrich Hölderlin war Zeitzeuge politischer und philosophischer Revolutionen. Wie die Zeitenwende sein Weltbild prägte und sein Schicksal besiegelte, zeigt eine neue Biografie.
SALZBURG. Ein Tisch. Viel mehr hat Friedrich Hölderlin an greifbaren Dingen nicht hinterlassen. Im Turm, den er ein halbes Leben bewohnt hat, ist der Tisch heute das einzige Exponat aus Lebzeiten. Auch der Turm ist ein anderer, das Original ist im Jahr 1875 abgebrannt.
Der zum Auftakt der Jubiläumsfeiern wiedereröffnete Hölderlinturm in Tübingen passt zum Phänomen einer Sphinx, eines Dichters und dessen geheimnisumwittertem Schicksal. Der deutsche Philosoph und Autor Rüdiger Safranski wagt zum 250. Geburtstag Friedrich Hölderlins eine Neubetrachtung: „Komm! ins Offene, Freund!“lautet der Untertitel der neuen Biografie. Wer war dieser Dichter, der sich aus den Zwängen einer frömmlerischen Gesellschaft lösen konnte und in der griechischen Antike eine Ersatzreligion fand?
Am 20. März 1770 wird Friedrich Hölderlin geboren und wächst im südwestdeutschen Örtchen Nürtingen auf. Seine Mutter erhofft sich für ihn ein Leben als Pfarrer, steckt den Buben in kirchliche Lehranstalten. „Ein pietistischer Geist war spürbar, dem alles ,Weltliche‘ zunächst einmal verdächtig ist“, schildert Safranski. Doch Friedrich Hölderlin ist nicht dazu geschaffen, Erwartungen zu erfüllen. „Der kleinste Umstand jagt mein Herz aus sich heraus“, schreibt er als 17-Jähriger und beklagt sich über seine „wächserne Weichheit“. Idole findet der junge Träumer in den unerschütterlichen Heroen der Antike, denen er lange treu bleiben wird. Für andere sei die Antike Bildungserlebnis gewesen, für Hölderlin aber zur Religion geworden, schreibt Safranski.
Die Faszination dieses Buches geht von der Einordnung des Lebenswegs Hölderlins inmitten der 1789 losgetretenen Französischen Revolution und seiner Auseinandersetzung mit dem Werk von Zeitgenossen wie Friedrich Schiller und Immanuel Kant aus. Philosoph Safranski widmet seiner Leibdisziplin viel Raum, lässt das historische Aufeinandertreffen großer Geister als Studenten im Stift von Tübingen vor den Augen des Lesers auferstehen. Die Zimmergenossen Hegel, Schelling und Hölderlin saugen den liberalen Geist des Stifts ein und nennen sich „die unsichtbare Kirche“. Sie setzen sich mit Kant und Spinoza auseinander – und stellen ihre religiösen Überzeugungen auf den Prüfstand. Sie verschlingen die Zeitungsberichte über die Kämpfe zwischen Bürgertum und Adel in Paris und nehmen eine gefährliche politische Haltung ein. Safranski bringt uns diese Zeitenwende und ihre Moden näher: „Man zog Werthers Sperlingsfrack an oder gebärdete sich wie Schillers Karl Moor.“Und er erläutert, wie der Aufklärer Kant „die produktive Einbildungskraft“als jene Energie herausstreicht, die den Erfahrungsstoff erst befeuert. Friedrich Hölderlin mag genau das ermutigt haben, sich als schöpferischer Geist der Poesie hinzugeben, lautet seine Schlussfolgerung. Vom attraktiven Schöngeist, der Frauen und Männer anzieht, wandelt sich Hölderlin zum Wanderer, der nichts mehr auf sein Äußeres gibt. Als Hölderlins Raserei und Gemütsverwirrungen, verstärkt von persönlichen Schicksalsschlägen, seinem Umfeld unerträglich werden, als er ein Klavier malträtiert und danach auch in der Psychiatrie monatelang nicht zur Vernunft kommt, nimmt ihn der Schreinermeister Ernst Zimmer in seinem Turm auf: einem hellen Raum, dem „genau jene Atmosphäre des Offenen“innegewohnt habe, „die Hölderlin so liebte“, beschreibt Safranski. Er spiele stundenlang in sich versunken Klavier, in seinen Gedichten leiere er Binsenweisheiten „wie eine Spieluhr“herunter.
Dem Sprachkünstler mangle es am sprachlichen Ausdruck, berichtet ein Besucher. Ein anderer schreibt: „Die gesamte Welt des Geistes ist ihm Schein und Nebel.“Wie konnte einer der hellsten Köpfe seiner Zeit 36 Jahre lang mit dem Verlust seiner größten Gabe umgehen? „Man hielt ihn für verrückter, als er war“, schließt Safranski.