Bei Hölderlin kommt die Vernunft an ihre Grenzen
Die Dichtung des Autors höchster Emotionen läuft Gefahr, vereinnahmt zu werden.
Hölderlin kennt keine Berührungsangst mit dem Heiligen. Er sucht es, findet es in der Vergangenheit, wenn er die Götter der Antike anruft. Er heiligt die Frauen. In seiner Dichtung steckt ein prägendes Erhabenheitserlebnis. Für ihn bleibt das nicht Attitüde, nicht Bildungsfleiß, nicht sophistisches Spiel für Kenner, sondern blanker Ernst. Der hohe Ton, angelehnt an antike Formen wie asklepiadeische Strophe oder alkäische Ode, drückt seine Nähe zum Heiligen aus.
Damit sieht sich der Dichter auf einsamem Grund. „Die scheinheiligen Dichter“nennt er jene, denen Antike bloß als kultureller Hintergrund dient oder gar ironische Interventionen. Er stellt die Frage:
„Wo sind jetzt Dichter, denen der Gott es gab, / Wie unsern Alten, freudig und fromm zu sein?“Das „Zauberland der griechischen Götter“ist ihm poetisches Sehnsuchtsterritorium, unrealisierbar im von Kleinstaaterei zerfressenen
Deutschland seiner Zeit. Hölderlin schreibt Dichtung als Gegenentwurf zur kleinmütigen Gegenwart, die er vom Rationalitätsgedanken und der Vernunft entzaubert sieht.
Im realen Leben übertrug er seine Leidenschaft, die ein ewiges Sehnen blieb, an Susette Gontard, die er in seiner Dichtung als Diotima verklärte. Als Hauslehrer beim Frankfurter Bankier Gontard lernten die beiden einander kennen, die Liebe war gegenseitig. Den Gepflogenheiten der Zeit geschuldet war die Trennung unausweichlich, sie blieben fortan auf Briefwechsel angewiesen. „Wie ist nun, seit du fort bist, um und in mir alles so öde und leer, es ist als hätte mein Leben, alle Bedeutung verlohren, nur im Schmerz fühl ich es noch“, teilte Susette ihrem Geliebten mit. Der Verlust hinterließ bei beiden Spuren, die ihre Gesundheit vergifteten.
In Gedichten hält Hölderlin seiner Diotima die Treue, auch im Briefroman „Hyperion oder Der Eremit in Griechenland“ruft er sie an. Er war 27 Jahre alt, als der erste Band erschien, 29 beim zweiten. Hier ist ausgedrückt, was auch die
Gedichte prägt, die intensive Zuwendung zur Natur, die als der Widerschein von etwas Göttlichem genommen wird. Hölderlin ist der Autor des Superlativs, der höchsten Emotionen, des Außer-sich-Seins, der wunderbaren Hingabe an etwas Großes, das außerhalb seiner selbst liegt und wofür die Vernunft keine brauchbare Sprache gefunden hat.
Deshalb dieses exzessive Suchen nach einem Sinn, dem sich das Individuum hinzugeben vermag. „Ich hab es Einmal gesehen, das Einzige, das meine Seele suchte, und die Vollendung, die wir über die Sterne hinauf entfernen, die wir hinausschieben bis ans Ende der Zeit, die hab ich gegenwärtig gefühlt.“
Dichtung vom Schlage Hölderlins läuft Gefahr, vereinnahmt zu werden. Der Dichter und DDR-Politiker
Johannes R. Becher klagte „diese faschistischen Ideologen“an, die es unternommen hätten, Hölderlins Werk „mit bombastischen Phrasen umzulügen in einen Propheten des Schlachtfeldes von Langemarck, der Metzelei zu Nutzen und Frommen von Kanonenkönigen und Kolonialräubern“. 1971 holte Peter Weiss in seinem HölderlinDrama den Dichter aus der Studierkammer und präsentierte ihn als einen von Ideen der Französischen Revolution Infizierten: „denn dacht er sich auch eine heile Welt/so ward sie immer wieder durch die Umstände entstellt“. Dem Geist der 68er-Unruhen gemäß wurde Hölderlin Revolutionär. Das ist vorbei.
Heute dürfen wir ein entspanntes Verhältnis zu dem Dichter aufbauen, der ein Singulär geblieben ist.