Liebe überwindet Standesgrenzen
„Romeo und Julia“erhält eine gesellschaftspolitische Dimension.
SALZBURG. Eigentlich ist alles angerichtet für Julia Capulet. Die Eltern haben der jungen Frau einen standesgemäßen Ehemann ausgesucht, einem Leben ohne Sorgen steht nichts im Weg. Blöd nur, dass Julia nichts für den blassen Paris empfindet. Romeo hingegen weckt starke Empfindungen in ihr, als sie ihm am Maskenball erstmals begegnet.
Ob als Theaterstück, Oper, Musical oder Ballett: Die Liebesgeschichte „Romeo und Julia“kennt keinen Gewinner. Reginaldo Oliveira deutet den Ballettklassiker Sergej Prokofjews als tragischen Klassenkampf. Der Ballettchef des Salzburger Landestheaters kleidet die Montagues in ärmellose Jeanshemden und kesse Hotpants, er verleiht ihren Bewegungen auch etwas Ungehöriges, faszinierend Instinkthaftes. Wenn diese Gang tanzt, wie in der Premiere am Samstagabend, fühlt man sich an die Verfilmung der „West Side Story“erinnert: Get cool, boy!
Dass die Angehörigen der Arbeiterklasse, allen voran die von Iure de Castro und Paulo Muniz kraftstrotzend getanzten Mercutio und Benvolio, beim Ball der Capulets aus dem Rahmen fallen, dafür sorgt die von Kostümbildnerin Judith Adam geschaffene Gold-Couture für die Patrizier: Dem von Alexander Korobko markant dargestellten Tybalt fällt es nicht schwer, die Störenfriede zu identifizieren.
Während Reginaldo Oliveira den ersten Akt weitgehend originalgetreu belässt und dem Corps de ballet viel Platz für raumgreifende Tableaus gibt, dampft er den zweiten Teil zum spannungsgeladenen Kammerspiel ein. Die Figur des hilfreichen Pater Lorenzo ist gestrichen, Larissa Mota fädelt als empathische, in Interessenkonflikte verstrickte Amme das Täuschungsmanöver ein. Mit Lady Capulet wird eine weitere weibliche Figur aufgewertet und in eigenständiger Bewegungssprache charakterisiert: Harriet Mills als kühle, oftmals in Hebefiguren durch den Raum schwebende Mutter zeigt enorme schauspielerische Vielschichtigkeit. Es scheint, dass diese Frau über Julias Tod weniger bestürzt ist als über die Tatsache, dass ihre Tochter überhaupt zu einer solch schwerwiegenden Entscheidung fähig ist.
Márcia Jaqueline bietet in der Titelrolle großes Tanztheater: Ihre Julia durchlebt eine Entwicklung vom fremdgesteuerten Mädchen zur selbstbestimmten Frau. In einem Wechselbad aus Todesangst und Lebenslust ringt sie sich dazu durch, den riskanten Plan zum Scheintod zu realisieren. Die klassizistische Palazzo-Architektur des ersten Teils hat Bühnenbildner Sebastian Hannak längst zu Bruchstücken dekonstruiert, Flavio Salamanka als Romeo irrt durch Ruinen. Auch er wandelt sich vom Träumer zum Mann der Tat, der Klassenunterschiede überwindet.
Welche Kraft sich im Verbund mit einem Orchester hätte entwickeln können, bleibt Spekulation. Aus Lautsprechern erzielt Prokofjews geniale Musik mit ihren rhythmischen Variationen der Leitmotive und ihrer urwüchsigen motorischen Kraft zu wenig Präsenz. Dem nuancenreichen Kammerspiel aber ist der kleine Theaterraum dienlich, bis hin zum berührenden Todeskampf der Liebenden im Liegen.
Ballett: