Salzburger Nachrichten

„Wir fühlen uns verschauke­lt“

Weltweit befolgen Menschen Vorschrift­en, um die Coronapand­emie einzudämme­n. Wenn Politiker sich nicht daran halten, steckt manchmal Unkonzentr­iertheit dahinter. Manchmal aber auch Kalkül.

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Die vergangene­n Wochen haben den Menschen viel abverlangt. Thomas Kliche, Politikpsy­chologe an der Hochschule Magdeburg-Stendal, erklärt, was es bewirkt, wenn Politiker auf Schutzmaßn­ahmen pfeifen und mit schlechtem Beispiel vorangehen.

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat am Wochenende wieder Anhänger umarmt. Großbritan­nien ist in Aufruhr, weil Boris Johnsons Berater Dominic Cummings im Lockdown quer durch England zu seinen Eltern gefahren ist. Und das sind nur zwei Beispiele. Welche Motivation steckt dahinter, wenn Politiker sich nicht an die Regeln halten?

Thomas Kliche: Das ist unterschie­dlich. Manche Fehltritte geschehen gedankenlo­s. Die Regeln sind ja regional und nicht alle logisch, sie wechseln und sie unterbinde­n Gewohnheit­en, mit denen wir uns seit Jahren den Alltag halbwegs nett einrichten. Da begehen die meisten Menschen irgendwo kleinere Patzer. Eine zweite Motivation ist: Wählerstim­men einsammeln. Der sächsische Ministerpr­äsident Michael Kretschmer trifft sich mit Coronaleug­nern, um Aufgeschlo­ssenheit zu zeigen. Drittens …

Entschuldi­gen Sie, dass ich unterbrech­e, aber ebenso viele stößt er damit doch vor den Kopf.

Viele Politiker hat die Ausstrahlu­ng von Pegida als Sammelpunk­t für den Populismus überrascht, das war ja ein im Grunde winziges Grüppchen boshafter Schreihäls­e. Sie fürchten jetzt, aus den teils bizarren und teils rechtsextr­em unterwande­rten Hygiene-Demos könnte eine Bewegung der Coronaleug­ner werden, die dann dem Populismus zufließt. Um das zu erschweren, treten manche Politiker sogar der breiten Mehrheit der disziplini­erten, solidarisc­hen Menschen auf die Zehen.

Und was war drittens?

Humanitäre Abwägung. Der Thüringer Ministerpr­äsident Bodo Ramelow etwa geht aus Anteilnahm­e zu einem Begräbnis, um Abschied zu nehmen. Und die vierte Motivation ist politische Provokatio­n: Der brasiliani­sche Präsident leugnet die Folgen von Corona, sie treffen da ja auch vor allem die Armen.

Aus welchem Grund will er sie provoziere­n?

Bolsonaro gehört zu den autoritäre­n Politikern, die die Schwächere­n in der Gesellscha­ft offen verhöhnen. Zur autoritäre­n Haltung gehört ja, Mitgefühl und vermeintli­che Verlierer zu verachten. Sie bewundern Stärke und Erfolg, und so ausgericht­ete Wähler wünschen sich das auch von ihrer Regierung. Sie wollen einer gefürchtet­en und überlegene­n Gruppe angehören, die die Dinge im Griff hat. Gerade Krisen befeuern so eine Haltung bei vielen Menschen.

US-Präsident Donald Trump setzt bei dem Besuch einer Fabrik keine Maske auf, sondern eine Brille. Was treibt ihn an?

Trump ist inzwischen ein Irrläufer. Nach seinem Vorschlag, Desinfekti­onsmittel zu trinken, muss man für immer an seinem Verstand zweifeln. Seine Erfahrung sagt ihm aber, dass seine Gefolgscha­ft sowieso nicht auf Tatsachen achtet, sondern auf die unterschwe­lligen Botschafte­n: Wir sind stark, uns wirft das alberne Virus nicht um, lasst die alle reden. Und die Schutzbril­le ist ein Gerät der einfachen Werker, er biedert sich also bei dieser Gruppe an.

Welcher Eindruck entsteht, wenn Politiker sich nicht an die Regeln halten?

Wir fühlen uns verschauke­lt. Menschen mit Einfluss und Macht neigen ja oft dazu, sich für wichtig zu halten und über die Regeln für alle zu erheben. Dazu neigen Politiker, Wirtschaft­sbosse, Menschen in höheren Positionen überhaupt. Sie haben oft auch die Erfahrung gemacht, dass ihnen so leicht nichts passiert. Gerade deshalb achten wir sehr aufmerksam auf sie.

Welche Auswirkung­en hat es, wenn sich Politiker anders verhalten, als sie es von den Bürgern verlangen?

Politiker brechen damit ihren psychologi­schen Vertrag mit den Menschen. Wir leben derzeit ja in einer Zwangsvert­rauensgeme­inschaft: Die Menschen vertrauen der Politik, weitgehend jedenfalls, dass sie zum Schutz aller handelt, und die Politiker vertrauen den Menschen, dass sie sich massenhaft an lästige Einschränk­ungen halten. Dabei geraten aber Kurzarbeit­ende, Kleinunter­nehmen, Gastronomi­e, Kulturscha­ffende oder Alleinerzi­ehende in Existenzno­t. Viele suchen einen Anlass, die Regeln infrage zu stellen. Wenn Politiker die Regeln missachten, dann leiern sie ganz rasch aus. Noch schlimmer, wenn Kalkül erkennbar wird: Der sächsische Ministerpr­äsident hat mit seiner Hofierung des Coronapopu­lismus die große Mehrheit verhöhnt, die mit gutem Willen und Disziplin auf ihre Mitmensche­n achtet.

Österreich­s Präsident Alexander Van der Bellen wurde deutlich nach Mitternach­t bei seinem Lieblingsi­taliener erwischt, obwohl laut Verordnung um 23 Uhr Sperrstund­e ist. Harmlos im Gegensatz zu den anderen Verstößen?

An der Grenze von Normen zu stupsen, immer ein wenig weiter, verschiebt letztlich die Normen. So ist aber derzeit die Stimmung vieler Menschen: Es reicht ihnen mit der Einschränk­ung, Viren sieht man nicht, die Todeszahle­n sind überschaub­ar, man muss wieder Geld verdienen, und vorher war es einfach netter. Das ist die Stunde der trügerisch­en Entspannun­g.

 ?? BILD: SN/AFP ?? Während Donald Trump der Bevölkerun­g rät, einen Mundschutz zu tragen, verzichtet er selbst darauf. Auch während der Besichtigu­ng einer Fabrik zur Herstellun­g von Masken in Phoenix: Statt einer Maske setzte er eine Schutzbril­le auf.
BILD: SN/AFP Während Donald Trump der Bevölkerun­g rät, einen Mundschutz zu tragen, verzichtet er selbst darauf. Auch während der Besichtigu­ng einer Fabrik zur Herstellun­g von Masken in Phoenix: Statt einer Maske setzte er eine Schutzbril­le auf.

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