Dürfen wir uns schämen?
Ein kritisches Durchleuchten der eigenen Geschichte bringt am Ende immer Fortschritt.
In Washington machte sich am Donnerstag die Nationalgarde bereit, um die Denkmäler in der US-Hauptstadt zu schützen. Im Herzen Londons wird die Statue Winston Churchills, Befreier Europas vom Nationalsozialismus und großer britischer Staatsmann, von der Polizei streng bewacht. Zuvor hatten wütende Demonstranten „War ein Rassist“auf den Sockel der Ikone gesprüht. Im Zuge der Anti-Rassismus-Proteste stürzen Statuen, werden Monumente beschmiert. Beschämend sei das, meinte der britische Premier Boris Johnson.
Beschämend für wen und weshalb? Johnsons Scham unterstellt der Bevölkerung eine gewisse Undankbarkeit gegenüber einem Staatsmann, dem Europa seine Freiheit verdankt.
Aber sollten wir das nicht anders bewerten? Muss man sich dafür schämen, aus der Gegenwart auf die Geschichte zu blicken und ihre Standbilder als blinde Verehrung aufzudecken? Ist die einseitige Sicht auf die einstigen Helden nicht viel beschämender? Und könnte es im Gegensatz dazu nicht sein, dass wir uns für die Geschichte schämen wollen – und dies sogar dürfen?
Schon richtig, ein kritischer Blick auf die Helden der Geschichte erregt Unmut. Zu glauben, dass wir aus einer Gemeinschaft guter Menschen stammen, macht auch aus uns vermeintlich gute Menschen. So reagieren die meisten ablehnend, wenn das eigene Land, die eigenen Leute öffentlich „beschmutzt“werden. Es schmerzt unser Identitätsbewusstsein. „Opa war kein Nazi“– dieser Satz kann sprichwörtlich für Deutschland und Österreich stehen. Er zeigt den Wunsch, dass unsere Vorfahren, Idole, Heimatländer moralisch intakt waren und sind. Aber ginge es nicht auch anders?
Diesen anderen Weg hat Deutschland in unvergleichbarer Weise vorgegeben: Es ist möglich, sein Land zu lieben, obwohl man sich für seine Geschichte schämt. Am kürzlich begangenen 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dies so geäußert: „Es gibt keinen deutschen Patriotismus ohne Brüche. Ohne den Blick auf Licht und Schatten, ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkeit und Scham … Wer das nicht erträgt, wer einen Schlussstrich fordert, der verdrängt nicht nur die Katastrophe von Krieg und NS-Diktatur. Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben.“
Dieses Gute ist eine Erinnerung, die sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt, anstatt sie zu beschönigen oder wegschieben zu wollen. Im Blick auf das heutige Deutschland sehen wir, dass eine derartige Haltung zum Fortschritt anspornt. Anscheinend ist es gut, sich für die eigene Vergangenheit offen schämen zu dürfen.
Österreich hat dies lang abgelehnt. Die Österreicherinnen und Österreicher schämen sich erst heute ihrer Vergangenheit; laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage tun sie das „oft“, und vor allem, wenn sie im Ausland sind. Die junge Generation schämt sich noch einmal mehr: weil ihr Land die Mitverantwortung am Holocaust so lang bestritten hat. Demgegenüber sieht ein Großteil der deutschen Befragten den Umgang ihres Landes mit der Vergangenheit mittlerweile als etwas, das sie stolz macht, Deutsche zu sein.
Auch aus diesen Ergebnissen sieht man, dass das kritische Durchleuchten der eigenen Geschichte – möge sie noch so unbequem sein – am Ende immer Fortschritt bedeutet.
Österreich verhalf die Debatte um Kurt Waldheim in den 1990er-Jahren zu einem Schritt voran. Die Konfrontation mit der eigenen Geschichte, die Einsicht in die verleugnete Nazi-Mitläuferrolle und das darauf folgende historische Schuldgeständnis von Kanzler Franz Vranitzky sind heute ein Grund mehr, gern zu diesem Land zu gehören. Was damals von vielen als unnötige Nestbeschmutzung empfunden wurde, ist heute das Gegenteil: der Mut, sich der Geschichte zu stellen, hat das bis dahin als selbstverständlich Geglaubte radikal entlarvt. Erst sich dafür zu schämen wirkte befreiend auf die gesamte Gesellschaft.
Zumindest in Europa scheint sich im 21. Jahrhundert eine neue Erinnerungsmoral herausgebildet zu haben. Sie geht nach vorn in eine postnationale Gemeinschaft, die sich ein „Nie wieder Auschwitz“auf die Fahnen schreibt. Diese Moral umfasst einen Appell, sich der Erinnerung zu stellen, sich zu entschuldigen, ja sogar sich bewusst zu schämen für die eigene Vergangenheit.
Dazu reicht es aber nicht aus, historische Ungerechtigkeiten wie Rassismus und Sexismus nur anzuprangern und dann schnell jene ins System einzufügen, die bislang nicht vertreten waren: Frauen in Führungspositionen zu hieven, den Anteil von schwarzen Studenten zu erhöhen, die Stimmen von Minderheiten in die Curricula unseres Schulunterrichts aufzunehmen oder die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare gesetzlich zu verankern.
Eine wirklich „neue“Gesellschaft kann mehr als das. Es wäre zu wenig, neue Gruppen in alten Strukturen zu verankern und Institutionen auszustatten, die sich immer noch aus den gleichen historischen Ungerechtigkeiten speisen. Jetzt gilt es unser politisches System, unsere Gesellschaft neu aufzustellen und damit die Normalität vollkommen neu zu denken – auch wenn es noch so schmerzlich ist.
Ungerechtigkeiten anprangern ist zu wenig
Die Salzburgerin Kathrin Bachleitner forscht an der britischen Universität Oxford über internationale Beziehungen.