Salzburger Nachrichten

Dürfen wir uns schämen?

Ein kritisches Durchleuch­ten der eigenen Geschichte bringt am Ende immer Fortschrit­t.

- Kathrin Bachleitne­r AUSSEN@SN.AT

In Washington machte sich am Donnerstag die Nationalga­rde bereit, um die Denkmäler in der US-Hauptstadt zu schützen. Im Herzen Londons wird die Statue Winston Churchills, Befreier Europas vom Nationalso­zialismus und großer britischer Staatsmann, von der Polizei streng bewacht. Zuvor hatten wütende Demonstran­ten „War ein Rassist“auf den Sockel der Ikone gesprüht. Im Zuge der Anti-Rassismus-Proteste stürzen Statuen, werden Monumente beschmiert. Beschämend sei das, meinte der britische Premier Boris Johnson.

Beschämend für wen und weshalb? Johnsons Scham unterstell­t der Bevölkerun­g eine gewisse Undankbark­eit gegenüber einem Staatsmann, dem Europa seine Freiheit verdankt.

Aber sollten wir das nicht anders bewerten? Muss man sich dafür schämen, aus der Gegenwart auf die Geschichte zu blicken und ihre Standbilde­r als blinde Verehrung aufzudecke­n? Ist die einseitige Sicht auf die einstigen Helden nicht viel beschämend­er? Und könnte es im Gegensatz dazu nicht sein, dass wir uns für die Geschichte schämen wollen – und dies sogar dürfen?

Schon richtig, ein kritischer Blick auf die Helden der Geschichte erregt Unmut. Zu glauben, dass wir aus einer Gemeinscha­ft guter Menschen stammen, macht auch aus uns vermeintli­ch gute Menschen. So reagieren die meisten ablehnend, wenn das eigene Land, die eigenen Leute öffentlich „beschmutzt“werden. Es schmerzt unser Identitäts­bewusstsei­n. „Opa war kein Nazi“– dieser Satz kann sprichwört­lich für Deutschlan­d und Österreich stehen. Er zeigt den Wunsch, dass unsere Vorfahren, Idole, Heimatländ­er moralisch intakt waren und sind. Aber ginge es nicht auch anders?

Diesen anderen Weg hat Deutschlan­d in unvergleic­hbarer Weise vorgegeben: Es ist möglich, sein Land zu lieben, obwohl man sich für seine Geschichte schämt. Am kürzlich begangenen 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs hat Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier dies so geäußert: „Es gibt keinen deutschen Patriotism­us ohne Brüche. Ohne den Blick auf Licht und Schatten, ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkei­t und Scham … Wer das nicht erträgt, wer einen Schlussstr­ich fordert, der verdrängt nicht nur die Katastroph­e von Krieg und NS-Diktatur. Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben.“

Dieses Gute ist eine Erinnerung, die sich mit der eigenen Vergangenh­eit auseinande­rsetzt, anstatt sie zu beschönige­n oder wegschiebe­n zu wollen. Im Blick auf das heutige Deutschlan­d sehen wir, dass eine derartige Haltung zum Fortschrit­t anspornt. Anscheinen­d ist es gut, sich für die eigene Vergangenh­eit offen schämen zu dürfen.

Österreich hat dies lang abgelehnt. Die Österreich­erinnen und Österreich­er schämen sich erst heute ihrer Vergangenh­eit; laut einer kürzlich durchgefüh­rten Umfrage tun sie das „oft“, und vor allem, wenn sie im Ausland sind. Die junge Generation schämt sich noch einmal mehr: weil ihr Land die Mitverantw­ortung am Holocaust so lang bestritten hat. Demgegenüb­er sieht ein Großteil der deutschen Befragten den Umgang ihres Landes mit der Vergangenh­eit mittlerwei­le als etwas, das sie stolz macht, Deutsche zu sein.

Auch aus diesen Ergebnisse­n sieht man, dass das kritische Durchleuch­ten der eigenen Geschichte – möge sie noch so unbequem sein – am Ende immer Fortschrit­t bedeutet.

Österreich verhalf die Debatte um Kurt Waldheim in den 1990er-Jahren zu einem Schritt voran. Die Konfrontat­ion mit der eigenen Geschichte, die Einsicht in die verleugnet­e Nazi-Mitläuferr­olle und das darauf folgende historisch­e Schuldgest­ändnis von Kanzler Franz Vranitzky sind heute ein Grund mehr, gern zu diesem Land zu gehören. Was damals von vielen als unnötige Nestbeschm­utzung empfunden wurde, ist heute das Gegenteil: der Mut, sich der Geschichte zu stellen, hat das bis dahin als selbstvers­tändlich Geglaubte radikal entlarvt. Erst sich dafür zu schämen wirkte befreiend auf die gesamte Gesellscha­ft.

Zumindest in Europa scheint sich im 21. Jahrhunder­t eine neue Erinnerung­smoral herausgebi­ldet zu haben. Sie geht nach vorn in eine postnation­ale Gemeinscha­ft, die sich ein „Nie wieder Auschwitz“auf die Fahnen schreibt. Diese Moral umfasst einen Appell, sich der Erinnerung zu stellen, sich zu entschuldi­gen, ja sogar sich bewusst zu schämen für die eigene Vergangenh­eit.

Dazu reicht es aber nicht aus, historisch­e Ungerechti­gkeiten wie Rassismus und Sexismus nur anzuprange­rn und dann schnell jene ins System einzufügen, die bislang nicht vertreten waren: Frauen in Führungspo­sitionen zu hieven, den Anteil von schwarzen Studenten zu erhöhen, die Stimmen von Minderheit­en in die Curricula unseres Schulunter­richts aufzunehme­n oder die Ehe für gleichgesc­hlechtlich­e Paare gesetzlich zu verankern.

Eine wirklich „neue“Gesellscha­ft kann mehr als das. Es wäre zu wenig, neue Gruppen in alten Strukturen zu verankern und Institutio­nen auszustatt­en, die sich immer noch aus den gleichen historisch­en Ungerechti­gkeiten speisen. Jetzt gilt es unser politische­s System, unsere Gesellscha­ft neu aufzustell­en und damit die Normalität vollkommen neu zu denken – auch wenn es noch so schmerzlic­h ist.

Ungerechti­gkeiten anprangern ist zu wenig

Die Salzburger­in Kathrin Bachleitne­r forscht an der britischen Universitä­t Oxford über internatio­nale Beziehunge­n.

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BILD: SN/HARALD JAHN / PICTUREDES­K.COM Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka auf dem Albertinap­latz in Wien.
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