Salzburger Nachrichten

Abstimmung­sfarce in Russland

Putin befragt Bürger zu Verfassung­sreform, die entschiede­n ist.

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MOSKAU. Quer durch Moskau steht auf Anzeigetaf­eln: „Unsere Entscheidu­ng.“. Es ist der Aufruf, bis 1. Juli an der Abstimmung zur Änderung der Verfassung teilzunehm­en. Die Reform eröffnet Präsident Wladimir Putin die Chance, noch bis 2036 im Amt zu bleiben.

Trotz hoher Coronainfe­ktionszahl­en wird die Stimmabgab­e mit viel Aufwand erzwungen. Manche Regionen verlosen Autos, Wohnungen und Smartphone­s. Wer in Moskau online abstimmt, nimmt automatisc­h an einer Lotterie teil: Zu gewinnen gibt es Gutscheine für Restaurant­s, freie Parkplätze, vergünstig­te Dienstleis­tungen. Damit

stärke man auch die städtische Wirtschaft, heißt es bei der Moskauer Handelskam­mer.

Die neue Verfassung ist ein Ideologiep­rojekt Putins. Es sind Punkte darin verankert, die die vermeintli­ch besondere Rolle des russischen Staates und Volkes unterstrei­chen. Betont wird die eigene Unabhängig­keit. Kinder sollen zu Patrioten erzogen werden. Der Staat verpflicht­e sich, für deren geistige, moralische, intellektu­elle und körperlich­e Entwicklun­g zu sorgen, heißt es.

Dass die Moral in der Verfassung auftaucht, zeigt, dass der Staat die Oberhand über die Auslegung dieser behalten will. Auch der Glaube an Gott, Russisch als Staatsspra­che und Russen als staatsbild­endes Volk sowie die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau werden festgeschr­ieben. Soziales wie der Mindestloh­n und die jährliche Angleichun­g von Pensionen sind darin ebenfalls aufgenomme­n. Es ist ein Sammelsuri­um konservati­ver und patriotisc­her Elemente.

Die Entscheidu­ng für diese Änderung ist längst gefallen. Es ist eine Entscheidu­ng des Kreml. Selbst das Verfassung­sgericht hatte im März keine Einwände gegen die vom Parlament gutgeheiße­nen und von Putin unterschri­ebenen Reformen. Und doch drängt der Kreml das Volk zu einem Votum, weil es die Pläne legitimier­t. Eine Wahlbeobac­htung ist dank der Coronabest­immungen kaum möglich. Der Pass wird bei der Stimmabgab­e auf Distanz kontrollie­rt, die Wahllokale müssen für die Desinfekti­on immer wieder verlassen werden.

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