Schreibend die Gegenwart erforschen
Zum 70er ein Roman aus der Coronazeit: Marlene Streeruwitz zu Gast in Salzburg.
Was unternimmt eine Autorin in der Coronazeit, wenn die gewohnte Begegnungskultur abgeschafft ist? Ein politischer Kopf wie Marlene Streeruwitz setzt sich zur Arbeit an einem neuen Roman, „So ist die Welt geworden“, und stellt ihn ins Netz. Nach dem Prinzip des Fortsetzungsromans erscheint jede Woche ein Kapitel um Betty Andover. Am Beispiel einer einzelnen Figur werden Erfahrungen, die eine ganze Gesellschaft macht, vorgeführt. Streeruwitz hat sich mit Gina Kaus beschäftigt, der es in der Zwischenkriegszeit gelungen ist, in Zeitungen Romane in Fortsetzungen unterzubringen, was eine eigene Dramaturgie erfordert, um Spannung aufrechtzuerhalten.
Sie sind einfach gehalten, sehr unterhaltsam und bringen das Zeitgefühl auf den Punkt. Wer genau hinschaut, bemerkt, dass unter der heiteren Oberfläche Kritik an der Politik verborgen ist. Das leuchtet Streeruwitz ein, die Betty vom Lockdown bis zu den Lockerungen alles miterleben lässt – wie wir selbst auch: „Beim Bäcker. Betty war nicht sicher, ob sie die Maske noch aufsetzen sollte. Sie stand vor dem Geschäft. Die Türen waren schon aufgeglitten. Sie hielt die Maske in der Hand. Unschlüssig.“Es sei ihr verdächtig vorgekommen, meinte Streeruwitz am Mittwoch bei einer Lesung im Salzburger Literaturhaus, wie begütigend viele Menschen den Lockdown begrüßten.
Ihre Friseurin habe geschwärmt, wie innig sie sieben Wochen mit ihrer Familie verbracht habe. Dabei solle sie sich die Frage stellen, warum das sonst nicht möglich sei.
Und damit sind wir mitten in der Politik, mit der sich ihr Roman „Flammenwand“, kurz vor dem Ibiza-Skandal erschienen, beschäftigt. Eigentlich wollte sie keinen Roman mehr schreiben, zu wirkungslos schien ihr das Unterfangen, etwas zu bewegen in der Gesellschaft. Doch dann kam Wut über die türkis-blaue Regierung auf, und so entwickelte sich der Roman, der sich einerseits im Bereich der Fiktion bewegt, wo er sich Freiheiten herausnimmt, und andererseits eine penible Chronik der ersten SebastianKurz-Regierung beinhaltet. Alles dreht sich um Gustav und Adele, alles andere als ein Traumpaar. Streeruwitz kennen wir als Spezialistin von Macht und wie sie sich auf jene auswirkt, die unter ihr leiden. Der Stil hat etwas Hämmerndes, geeignet, uns einzubläuen, wie Verhältnisse den Einzelnen zurichten.
Die Geschichte ist auf dem Hintergrund des Frauenbilds rechtskonservativer Politik und deren männerbündischer Mentalität zu lesen, auf dem HC Strache eine so windige Figur abgibt. Der Roman orientiert sich an Dantes Inferno und ist ein Widerhall der englischsprachigen Moderne mit der Galionsfigur James Joyce.
Am Sonntag feiert Marlene Streeruwitz ihren 70. Geburtstag. Aus der österreichischen Literatur ist sie in ihrer kämpferischen Haltung nicht mehr wegzudenken. Sie nimmt einen unverrückbar klaren feministischen Standpunkt ein, ist theoretisch geschult. Das macht es Gegnern und Feinden schwer, sie zu widerlegen.
Sie stellt Frauenfiguren ins Magnetfeld der Gesellschaft, wo sie von Einflüssen oft schädlicher Natur malträtiert werden. Darauf müssen sie reagieren, um nicht zermalmt zu werden. Dazu gehört, dass sie sich der Geschichte stellen, die der gemeine Österreicher so gern vergisst. Margarethe etwa aus dem Roman „Nachwelt“von 1999. Eigentlich plant sie, eine Biografie über Anna Mahler zu schreiben, die während der Nazijahre ins amerikanische Exil flüchtete. Daraus wird nichts, weil sich Margarethe in Los Angeles auf ihre eigene Geschichte zurückgeworfen sieht und es ihr selbst in der Ferne an Österreich denkend die Kehle zuschnürt. Oder der Roman „Entfernung“von 2006. Selma hat es schlimm erwischt. Als Chefdramaturgin ist sie gefeuert worden, ihres Mannes ist sie verlustig gegangen, und als sie nach London reist, um hoffnungsvoll etwas Neues zu beginnen, gerät sie in einen Bombenanschlag. Minutiös gräbt sich Streeruwitz durch den Alltag in stilistisch fragmentierter Sprache.
Als Essayistin, die österreichische Politik analysierend, hat sich Streeruwitz vorzüglich bewährt. Sie ist gnadenlos, kennt keine Kompromisse, trifft die Schmerzpunkte und benennt Verlogenheit und Falschmünzerei. Kein Wunder, dass sie Österreichs Zustand nach Waldheim so schmerzhaft genau zu analysieren verstand.
Minutiös gräbt sich Streeruwitz durch den Alltag