Venedig: Heute und auf Goethes Reise
Die Wirklichkeit am Reiseziel schaut oft anders aus als das Sehnsuchtsbild, das uns zum Verreisen verführt hat.
Was verlockt uns zur Ferienreise? Was lässt uns Koffer packen, Geld ausgeben und Strapazen ertragen? Die Antwort liegt in einem Sammelsurium von Gefühlen, Wünschen und Träumen. Da diese aufzuspüren und auszudrücken die ureigene Aufgabe der Künstler ist, hat der neue Direktor der Tiroler Landesmuseen Peter Assmann dieses Thema für seine heute, Freitag, zu eröffnende erste große Sonderausstellung im Ferdinandeum aufgegriffen.
Protagonist für die Erkundung dessen, was beim Reisen in und mit uns geschieht, ist der erste Ferienreisende überhaupt: Johann Wolfgang von Goethe. Bis dieser sich im September 1786 nach Italien aufgemacht habe, seien Reisende jeweils mit bestimmtem Zweck aufgebrochen – um jemanden zu begleiten, etwas zu studieren, mit etwas zu handeln oder zu pilgern, erläutert der Kurator Johannes Ramharter. Doch „Goethe hatte kein Ziel und keine Verpflichtung“. Als Goethe sich in Weimar „eingeengt und eingeschlossen gefühlt“habe, habe er die Flucht „aus den Verpflichtungen, die ihn in Weimar aufzufressen beginnen“, angetreten. Und um nicht als der berühmte Hofbeamte erkannt zu werden, gab er sich als Filippo Miller aus.
Trotzdem suchte Goethe etwas in Italien. Was das gewesen ist, entnimmt Peter Assmann einem in dem als literarische Verarbeitung fast drei Jahrzehnte später erschienenen Buch „Italienische Reise“wiederholt aufscheinenden Satz: „Das habe ich schon gesehen.“Da dies faktisch unmöglich war, da sich Goethe ja erstmals in Italien aufhielt, folgert Peter Assmann: „Wir suchen Orte, von denen wir glauben, schon eine Kenntnis zu haben.“Noch dazu: Goethe ging nach Italien, um bildender Künstler zu werden oder wenigstens sein Talent dazu zu überprüfen.
Dieses Spiel von Sehnsuchtsbild und Suche danach sowie von Eindrücken, die wir erinnernd verändern und selektiv einprägen, wird in der Ausstellung abwechslungsreich nachgespielt. Daher hängt gleich am Anfang das Gemälde „Johann Wolfgang von Goethe in der Campagna“, eine Kopie des legendären Bilds aus dem Frankfurter Städel von Johann Heinrich Tischbein. Es ist so ikonenhaft wie Goethes Buch „Italienische Reise“, das Maßstab und Vorbild für zahllose bürgerliche Bildungsreisen bis in die Gegenwart geworden ist. Dass daneben Andy Warhols grellfarbiger Siebdruck von Goethes Konterfei aus dem Tischbein-Gemälde und wiederum daneben ein Foto von Andy Warhol vor dem Frankfurter Originalgemälde hängt, bereitet das Schauen und Denken auf das vor, was die Ausstellung auf zwei Stockwerken durchspielt: Was in unseren Köpfen und Gemütern vor, während und nach einer Reise vor sich geht. Sehr vereinfacht: Aus Bildern oder Erzählungen wachsen Sehnsüchte; deren Erfüllung suchen wir in einer vom Alltag entrückten Wirklichkeit; was wir da finden und selektiv wahrnehmen, verarbeiten wir wieder zu Bildern und Erzählungen.
Am Ende der Ausstellung hängt ein Foto aus dem heutigen Venedig mit einem Kreuzfahrtschiff. Dieses zeigt eine Realität, die nicht dem Sehnsuchtsbild entspricht, das viele zur Venedig-Reise animiert. Vielmehr könnte das heute gängige Wunschbild jenem Gemälde von Michele Marieschi ähneln, das so oder so ähnlich auch Goethe als typisches Venedig-Bild wahrgenommen haben dürfte.
Zurück zum Anfang der Ausstellung: Im ersten Raum ist zu sehen, wie Goethe seine
Reise vorbereitet hat, welche Italien-Bilder damals en vogue waren, wie er die Sprache gelernt hat und wie der Archäologe Johann Joachim Winckelmann das ab dann gültige Rezeptionsbild der Antike geprägt hat.
Dieses stachelte auch Goethe an. Er wollte in Italien die Antike erkunden, daher zog es ihn vor allem nach Rom. Eines der von Johannes Ramharter aufgespürten aparten Exponate ist ein Korkmodell des Rundtempels aus Tivoli; es stammt zwar nicht aus Goethes Besitz, doch hat dieser berichtet, einige solche damals übliche Souvenirs mitgenommen zu haben. Übrigens: Wegen des Faibles für die Antike habe Goethe Venedig kaum interessiert, sagt Johannes Ramharter. Nur die Pferde von San Marco sowie die Bauten Palladios waren für einen von Winckelmanns Antikenverständnis Begeisterten die Reise wert.
Einen hübschen Kontrast ergibt zuerst die Erläuterung von Goethes euphorisch gebrauchtem Begriff „Arkadien“als idyllische Ideallandschaft. Sein „Auch ich in Arkadien!“sollte Losung für jegliche Sehnsucht nach dem Süden werden. Danach sind die faktischen Utensilien seiner beschwerlichen Reise zu sehen: das Modell einer Postkutsche, sein Passierschein für die Fahrt von Rom nach Neapel, sein Ausgabenbuch, ein Tallero Veneziano, ein Scudo Romano und eine Piastra aus Neapel als Beispiele für Mühen von Münztransport und Geldwechsel sowie seine Pistole, da er bewaffnet reiste.
Im ersten Stock kann man die eigentliche Reise verfolgen, zum Gardasee, durch Rovereto, nach Venedig, Rom, Neapel – immer wieder eingesprengt mit Goethes eigenhändigen Zeichnungen. Diese verraten kein exorbitantes Talent, sodass verständlich ist, dass er beschloss, seine Kunst weiterhin im Dichten – etwa für „Iphigenie in Tauris“– zu entfalten.
Die Ausstellung führt doppelt nach Italien: anhand Goethes Beispiel in den Reisekosmos sowie zu einer Kooperationsausstellung in Riva am Gardasee, weshalb der Katalog auf Deutsch und Italienisch erschienen ist.
„Wir suchen Orte, von denen wir glauben, sie schon zu kennen.“
Ausstellung: