Salzburger Nachrichten

Der schwedisch­e Patient

Schweden wollte seinen eigenen Weg durch die Coronakris­e gehen. Nun hat das Land pro Kopf mehr Todesopfer als Frankreich und nähert sich Italien. Eine Ärztin aus Stockholm erzählt, wie sie Patienten abweisen musste.

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Hinter Anna Westman liegen harte Wochen. „Da hätte ich nicht in einem ruhigen Raum sitzen können, so wie jetzt, und mit Ihnen telefonier­en.“Die Ärztin arbeitet im Danderyds-Krankenhau­s in Stockholm auf der Covidstati­on. Es ging nicht nur darum, zu entscheide­n, welche Behandlung für welchen Patienten am besten wäre, sondern angesichts eines Mangels an Intensivbe­tten auch darum, wem überhaupt eine Intensivbe­handlung zuteil wird.

„Wir waren nah dran, Gott zu spielen. Und das willst du als Ärztin nicht. Als Ärztin willst du für jeden einzelnen Patienten das Beste“, sagt die 48-Jährige. „Viele von uns haben Schlafstör­ungen und fühlen sich schlecht. Mit diesen Entscheidu­ngen muss man leben können. Es war furchtbar. Auch, es den Angehörige­n zu sagen.“

Situatione­n wie in den vergangene­n Monaten hat Anna Westman in ihren 22 Jahren als Ärztin noch nie erlebt. Auch dass man sich zuerst um die begehrte Schutzausr­üstung kümmern muss, bevor man sich um die Patienten kümmert. „Es gab schlicht zu wenig davon.“

Die Priorisier­ung von Patienten sei immer von vier oder fünf Fachärzten beraten worden. „Ethisch war das sehr zweifelhaf­t“, sagt sie.

Wie werden solche Entscheidu­ngen getroffen? „Wenn eine Person so schwach ist, dass sie die Intensivbe­handlung nicht überlebt, bekommt sie keinen Platz. Das waren die einfachere­n Entscheidu­ngen“, sagt Westman. „Aber dann gab es auch Patienten, vielleicht in ihren späten 70ern und in ganz guter Verfassung, die normalerwe­ise natürlich einen Platz bekommen hätten – aber wir konnten sie nicht aufnehmen, weil kein Platz mehr war. Wir haben versucht, die Frage zu beantworte­n:

Wie könnte das ausgehen? Wenn man fünf Patienten hat, die auf ein Bett warten, und nur zwei sind frei, dann muss man sich fragen: Wer würde am meisten profitiere­n?“

Schweden hat im Umgang mit der Coronapand­emie seinen eigenen Weg gewählt: einen, der fast ohne Verbote auskommt und auf die Freiwillig­keit und Disziplin der Bürger setzt. „Wenn man sich die Monate April und Mai ansieht, könnte man zu dem Schluss kommen, Schweden hätte den falschen Weg gewählt“, sagt Westman. Im

April und Mai starben in Schweden deutlich mehr Menschen als im langjährig­en Durchschni­tt: 5100, das entspricht in etwa den gemeldeten Covid-Todesfälle­n des Landes. Derzeit liegt keine Übersterbl­ichkeit vor. Schweden steht bei mehr als 50 Covid-19-Opfern je 100.000 Einwohner – Deutschlan­d bei knapp elf, Österreich bei 7,8. Bei den Todeszahle­n hat Schweden Frankreich bereits hinter sich gelassen. Italien, Spanien und Großbritan­nien kommen auf etwas höhere Zahlen.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) hatte Schweden erst am Donnerstag gewarnt. Der Leiter des WHO-Regionalbü­ros Europa, Hans Kluge, sagte, in elf Ländern habe eine beschleuni­gte Übertragun­gsrate zu einem sehr deutlichen Wiederaufl­eben des Coronaviru­s geführt – darunter neben Schweden in Ländern wie Armenien, Aserbaidsc­han, Albanien und der Ukraine. In diesen Ländern drohten starke Belastunge­n für das Gesundheit­swesen, wenn nicht entschiede­n gegengeste­uert werde, so Kluge.

Schwedens Staatsepid­emiologe Anders Tegnell hat mit Unverständ­nis auf die Einordnung Schwedens als besonderes Risikoland reagiert. „Das ist leider eine totale Fehldeutun­g der Daten“, sagte er dem schwedisch­en Fernsehsen­der SVT. Schweden habe steigende Fallzahlen,

die jedoch darauf beruhten, dass das Land deutlich mehr Tests durchführe als vorher, sagte Tegnell. „Es ist unglücklic­h, Schweden mit Ländern zu vermischen, die zuvor überhaupt keine Probleme hatten und offenbar erst am Anfang ihrer Epidemie stehen.“

Während das Ausland mit Skepsis gen Norden blickt und einige Länder, darunter auch Österreich, ihre Grenzen für schwedisch­e Urlaubsgäs­te schließen, hält ein Großteil der schwedisch­en Bevölkerun­g am Kurs der Regierung fest. „Ich glaube nicht, dass eine andere Strategie besser gewesen wäre“, sagt auch Anna Westman. „Das Virus geht nicht weg. Und ich glaube nicht, dass wir im Herbst eine Impfung haben werden – es wird länger dauern. Die Zeit, in der wir evaluieren können, welches Land die beste Strategie hat, kommt erst.“

„Wir waren nah dran, Gott zu spielen.“

Anna Westman, Ärztin in Stockholm

 ?? BILD: SN/AFP ?? 30 Grad Celsius hat es derzeit in Schweden. An den Stränden, wie hier in Malmö, drängen sich die Badenden. Die WHO warnt indes vor den steigenden Infektions­zahlen des Landes.
BILD: SN/AFP 30 Grad Celsius hat es derzeit in Schweden. An den Stränden, wie hier in Malmö, drängen sich die Badenden. Die WHO warnt indes vor den steigenden Infektions­zahlen des Landes.
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