Das Wichtigste in der Politik ist die Unzufriedenheit
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist vom Streben nach Glückseligkeit die Rede. Doch die Politik kann mit zufriedenen Menschen nichts anfangen.
Die Philosophie, so weit sie sich mit der Lebenskunst beschäftigt, rät zur Zufriedenheit. „Mit den Göttern lebt derjenige zusammen, der ihnen zeigt, dass seine Seele mit allem, was ihr zugeteilt wird, zufrieden ist“, schreibt der römische Philosoph und Kaiser Marc Aurel. Plato lehrte: „Wer wahrhaft reich sein will, soll nicht sein Vermögen vergrößern, sondern seine Unersättlichkeit verringern.“
Und Immanuel Kant meinte: „Von größter Wichtigkeit ist es, mit der Vorsehung zufrieden zu sein.“Ein Ratschlag übrigens, der in dem klugen bäuerlichen Spruch seine Entsprechung findet: „Wie’s woar, is’ guat.“
In seltsamem Widerspruch zu diesen Weisheitslehren steht die Politik. Sie rät ausdrücklich nicht zur Zufriedenheit, sondern zum Gegenteil. Ein Großteil des politischen Diskurses zielt darauf ab, den Menschen einzureden, wie schlecht es ihnen geht und wie unzufrieden sie mit ihren Lebensumständen sein müssen.
Dass Oppositionsparteien dies tun, ist irgendwie verständlich. Sie weisen auf Missstände hin, um sich den Wählern als Einzige anzubieten, die diese Missstände beseitigen können. Frei nach dem Motto: „Alles ist fürchterlich, nur wir können euch retten!“Auch zum täglichen Brot von Interessenvertretern gehört es, beständig zu jammern, um für ihre Klientel möglichst viel herauszuholen.
Doch auch Regierungsparteien legen im Wahlkampf den Zufriedenheits/Unzufriedenheits-Schalter um: Während ihrer Regierungszeit finden sie die Lage enorm gut – schließlich sind sie ja selbst verantwortlich dafür. Doch kaum beginnt der Wahlkampf, fangen auch sie an zu klagen und an die Unzufriedenheit der Menschen zu appellieren.
Die Philosophie rät zur Zufriedenheit
So kommt es zu der kuriosen Situation, dass sich die ÖVP, obwohl sie seit urdenklichen Zeiten das Finanzministerium leitet, in jedem Wahlkampf ernstlich betrübt über die hohe, leistungsfeindliche Steuerlast zeigt. Während die SPÖ, die so lange wie keine andere Partei die Sozialpolitik bestimmt hat, vor jeder Wahl entsetzt über die grassierende Armut und mangelnde soziale Absicherung ist.
Ja, haben diese beiden Parteien in den Jahren und Jahrzehnten ihrer Regierungszeit nur geschlafen? Oder ist es ihnen wichtiger, durch das Schüren von Unzufriedenheit leichter wahlkämpfen zu können, als die eigenen Leistungen
gebührend darzustellen? – Die Antwort lautet leider Ja. Denn das sicherste Mittel, die Wähler zu mobilisieren, ist der Appell an ihre Unzufriedenheit. Gegenteilige Versuche wie der Wohlfühlwahlkampf der ÖVP im Jahr 2006 gehen verlässlich schief.
Die Folge ist eine Deformation der öffentlichen Debatte, die mit der Realität nur wenig zu tun hat. Da kann ein 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket zur Bewältigung der Coronakrise geschnürt werden, trotzdem hat niemand einen Cent bekommen. Da leben wir in einem der reichsten Länder der Erde, trotzdem ist jeder ein Opfer. Da verfügen wir über eines der am dichtesten geknüpften sozialen Netze der Welt, trotzdem sind alle arm.
Was macht eine Politik, die geradezu an die Unzufriedenheit der Menschen appelliert, mit einer Gesellschaft? Sie widerspricht dem Ziel, das in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung so prominent genannt wird – dem
Streben nach Glückseligkeit. Um eines taktischen Vorteils willen streben die Parteien nicht unsere Glückseligkeit, sondern das genaue Gegenteil an: dass wir uns unglücklich fühlen, dass wir unzufrieden sind und uns deshalb Hilfe suchend an sie, die Parteien, wenden. Woraufhin sie unsere Not lindern, um uns anschließend neuerlich zu erklären, dass wir weiter enorm hilfsbedürftig sind.
Man sollte Politikern, die uns in beständiger Unzufriedenheit halten wollen, den legendären Satz des Diogenes entgegenhalten. Dieser soll eines Tages vor seiner Behausung – einer Tonne – in der Sonne gelegen sein, als Alexander der Große auf ihn zutrat. Der damalige Herr der Welt fragte den griechischen Philosophen der Anspruchslosigkeit, ob er etwas für ihn tun könne. „Ja“, antwortete Diogenes gähnend. „Geh mir aus der Sonne.“