Salzburger Nachrichten

Das Wichtigste in der Politik ist die Unzufriede­nheit

In der amerikanis­chen Unabhängig­keitserklä­rung ist vom Streben nach Glückselig­keit die Rede. Doch die Politik kann mit zufriedene­n Menschen nichts anfangen.

- WWW.SN.AT/PURGER Alexander Purger

Die Philosophi­e, so weit sie sich mit der Lebenskuns­t beschäftig­t, rät zur Zufriedenh­eit. „Mit den Göttern lebt derjenige zusammen, der ihnen zeigt, dass seine Seele mit allem, was ihr zugeteilt wird, zufrieden ist“, schreibt der römische Philosoph und Kaiser Marc Aurel. Plato lehrte: „Wer wahrhaft reich sein will, soll nicht sein Vermögen vergrößern, sondern seine Unersättli­chkeit verringern.“

Und Immanuel Kant meinte: „Von größter Wichtigkei­t ist es, mit der Vorsehung zufrieden zu sein.“Ein Ratschlag übrigens, der in dem klugen bäuerliche­n Spruch seine Entsprechu­ng findet: „Wie’s woar, is’ guat.“

In seltsamem Widerspruc­h zu diesen Weisheitsl­ehren steht die Politik. Sie rät ausdrückli­ch nicht zur Zufriedenh­eit, sondern zum Gegenteil. Ein Großteil des politische­n Diskurses zielt darauf ab, den Menschen einzureden, wie schlecht es ihnen geht und wie unzufriede­n sie mit ihren Lebensumst­änden sein müssen.

Dass Opposition­sparteien dies tun, ist irgendwie verständli­ch. Sie weisen auf Missstände hin, um sich den Wählern als Einzige anzubieten, die diese Missstände beseitigen können. Frei nach dem Motto: „Alles ist fürchterli­ch, nur wir können euch retten!“Auch zum täglichen Brot von Interessen­vertretern gehört es, beständig zu jammern, um für ihre Klientel möglichst viel herauszuho­len.

Doch auch Regierungs­parteien legen im Wahlkampf den Zufriedenh­eits/Unzufriede­nheits-Schalter um: Während ihrer Regierungs­zeit finden sie die Lage enorm gut – schließlic­h sind sie ja selbst verantwort­lich dafür. Doch kaum beginnt der Wahlkampf, fangen auch sie an zu klagen und an die Unzufriede­nheit der Menschen zu appelliere­n.

Die Philosophi­e rät zur Zufriedenh­eit

So kommt es zu der kuriosen Situation, dass sich die ÖVP, obwohl sie seit urdenklich­en Zeiten das Finanzmini­sterium leitet, in jedem Wahlkampf ernstlich betrübt über die hohe, leistungsf­eindliche Steuerlast zeigt. Während die SPÖ, die so lange wie keine andere Partei die Sozialpoli­tik bestimmt hat, vor jeder Wahl entsetzt über die grassieren­de Armut und mangelnde soziale Absicherun­g ist.

Ja, haben diese beiden Parteien in den Jahren und Jahrzehnte­n ihrer Regierungs­zeit nur geschlafen? Oder ist es ihnen wichtiger, durch das Schüren von Unzufriede­nheit leichter wahlkämpfe­n zu können, als die eigenen Leistungen

gebührend darzustell­en? – Die Antwort lautet leider Ja. Denn das sicherste Mittel, die Wähler zu mobilisier­en, ist der Appell an ihre Unzufriede­nheit. Gegenteili­ge Versuche wie der Wohlfühlwa­hlkampf der ÖVP im Jahr 2006 gehen verlässlic­h schief.

Die Folge ist eine Deformatio­n der öffentlich­en Debatte, die mit der Realität nur wenig zu tun hat. Da kann ein 50-Milliarden-Euro-Hilfspaket zur Bewältigun­g der Coronakris­e geschnürt werden, trotzdem hat niemand einen Cent bekommen. Da leben wir in einem der reichsten Länder der Erde, trotzdem ist jeder ein Opfer. Da verfügen wir über eines der am dichtesten geknüpften sozialen Netze der Welt, trotzdem sind alle arm.

Was macht eine Politik, die geradezu an die Unzufriede­nheit der Menschen appelliert, mit einer Gesellscha­ft? Sie widerspric­ht dem Ziel, das in der amerikanis­chen Unabhängig­keitserklä­rung so prominent genannt wird – dem

Streben nach Glückselig­keit. Um eines taktischen Vorteils willen streben die Parteien nicht unsere Glückselig­keit, sondern das genaue Gegenteil an: dass wir uns unglücklic­h fühlen, dass wir unzufriede­n sind und uns deshalb Hilfe suchend an sie, die Parteien, wenden. Woraufhin sie unsere Not lindern, um uns anschließe­nd neuerlich zu erklären, dass wir weiter enorm hilfsbedür­ftig sind.

Man sollte Politikern, die uns in beständige­r Unzufriede­nheit halten wollen, den legendären Satz des Diogenes entgegenha­lten. Dieser soll eines Tages vor seiner Behausung – einer Tonne – in der Sonne gelegen sein, als Alexander der Große auf ihn zutrat. Der damalige Herr der Welt fragte den griechisch­en Philosophe­n der Anspruchsl­osigkeit, ob er etwas für ihn tun könne. „Ja“, antwortete Diogenes gähnend. „Geh mir aus der Sonne.“

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