Die Puzzleteile ergeben ein grauenhaftes Bild
SIGRID LÖFFLER
Vor zwanzig Jahren löste der polnisch-amerikanische Historiker Jan Gross einen unerhörten Skandal in seinem Geburtsland Polen aus. Anlass war sein Buch „Nachbarn – Der Mord an den Juden von Jedwabne“. Darin beschreibt er ein Verbrechen, das sich während des Zweiten Weltkriegs in der Kleinstadt Jedwabne in Nordostpolen ereignet hat. Am 10. Juli 1941 wurden dort die jüdischen Einwohner auf dem Marktplatz zusammengetrieben und anschließend in einer Scheune außerhalb des Ortes lebendig verbrannt.
Für diese Untat wurde in Polen lange die deutsche Besatzungsmacht verantwortlich gemacht. Doch wie Gross nachwies, waren die eigenen polnischen Nachbarn die Täter. An diesem Juli-Tag in Jedwabne „ermordete die eine Hälfte der Bevölkerung die andere Hälfte“. Die Täter waren gewöhnliche Einwohner des Städtchens: Handwerker, Saisonarbeiter, junge Schläger und Herumtreiber, dazu Kleinbauern aus den umliegenden Dörfern, die das Gerücht auf Beute in die Stadt lockte. Sie alle waren in Pogromstimmung, da es schon in den Tagen zuvor in zwei Nachbarorten zu Massenmorden an der jüdischen Einwohnerschaft gekommen war. In dem einen Ort verbrannte ein polnischer Mob die Juden kollektiv in einer Scheune. Nach diesem Vernichtungsmuster gingen auch die Mörder in Jedwabne vor.
Die Geschichtsfälschung, die Jan Gross aufdeckte, löste in Polen eine erbitterte Kontroverse aus. Der Autor wurde als Lügner und Verleumder beschimpft. Einerseits. Doch andererseits begann die Debatte das herrschende Geschichtsbild zu verändern, wonach die Polen während der deutschen Okkupation nur Opfer gewesen seien. Das Trauma von Jedwabne gab den Anstoß, diesen Opfermythos zu hinterfragen – und niemand hat dies gründlicher und umfassender besorgt als die Publizistin Anna Bikont, Mitbegründerin der liberalen polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“.
Sofort nach Erscheinen von „Nachbarn“im Jahr 2000 nahm Bikont unbezahlten Urlaub und machte sich daran, die Erkenntnisse des Gross-Buches zu überprüfen (gegebenenfalls auch zu korrigieren) und womöglich neue Quellen und überlebende Augenzeugen des Pogroms ausfindig zu machen. Ihre gewaltige Chronik „Wir aus Jedwabne – Polen und Juden während der Shoah“erschien 2004 in Polen, gilt inzwischen als Klassiker der Historiografie und liegt nun endlich auf Deutsch vor.
Bikonts akribische Rekonstruktion des Verbrechens und seiner Vorgeschichte ist eine ebenso atemberaubende wie verstörende Lektüre. Es ist ihr gelungen, jüdische Überlebende des Massakers in aller Welt aufzustöbern. Sie hat mit Polen gesprochen, die damals Juden versteckt und gerettet hatten. Sie bemühte sich herauszufinden, welche Familien-Erinnerungen an das Verbrechen sich im Gedächtnis heutiger Einwohner von Jedwabne erhalten haben, stieß dabei jedoch meist auf verstocktes Schweigen und folgert: „Das Schweigen ist der Hauptbeweis ihrer Schuld. Wären es die Deutschen gewesen, dann hätten die Polen ja geredet.“
Bikonts Interviews mit Tätern, mit rechtsnationalen Politikern und katholischen Klerikern zeigen, wie erbittert die Tatsache einer polnischen Täterschaft immer noch verleugnet wird, indem man die Verantwortung den Opfern zuschiebt. Eingefleischte katholische Ressentiments gegen die Juden als angebliche „Gottesmörder“treten dabei ebenso zutage wie alle bekannten Stereotype eines archaischen Judenhasses. Das Pogrom wurde vor allem als Vergeltungsakt gerechtfertigt: Die Juden von Jedwabne hätten während der Sowjet-Herrschaft mit dem Geheimdienst NKWD kollaboriert und ihre polnischen Nachbarn denunziert – eine inzwischen vielfach widerlegte Bezichtigung.
Aus allen Puzzleteilen, die Bikont zusammentragen konnte, ergibt sich ein ebenso grauenhaftes wie detailreiches Bild von jenem JuliTag 1941. Demnach formierten sich die polnischen Einwohner von Jedwabne mit den herbeigeströmten Mordlustigen von außerhalb zur Hetzmeute, bewaffneten sich mit Knüppeln, Äxten und Messern, trieben am Morgen die Juden aus ihren Häusern, misshandelten sie stundenlang auf dem Marktplatz, schlugen viele von ihnen sofort tot und zwangen die kräftigsten und wehrhaftesten jüdischen Burschen dazu, ein Lenin-Denkmal auf dem Platz zu demolieren und die Trümmer in eine Scheune am Stadtrand zu schleppen, wo die Jungen totgeschlagen wurden. Am Nachmittag wurden die übrigen Juden – Frauen, Kinder, alte Leute – in diese Scheune getrieben. Das Tor wurde verriegelt, die Scheune mit Petroleum begossen und angezündet. Noch während sie brannte, begannen die Jedwabner die Häuser ihrer jüdischen Nachbarn zu plündern und schließlich zu besetzen.
Paradoxerweise war im Grunde all dies in Polen längst bekannt. Die Erinnerung daran war nur verdrängt, im kollektiven Gedächtnis gelöscht. Der Ablauf des Pogroms und die Namen der polnischen Haupttäter waren spätestens seit Mai 1949 aktenkundig, als vor dem Kreisgericht in Lomza zwei Dutzend Männer aus Jedwabne wegen ihrer Beteiligung am Pogrom angeklagt und etliche von ihnen zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Die Anklage stützte sich auf das Zeugnis eines einzigen Mannes: Szmul Wasersztejn, der als 19-Jähriger alles mitangesehen hatte. „Ohne sein Zeugnis wäre die Wahrheit über Jedwabne wohl nie ans Licht gekommen“, schreibt Bikont. Wasersztejn ist einer von sieben Juden, die nach dem Pogrom von einer polnischen Bäuerin in ihrem Hof versteckt und heil durch den Krieg gebracht wurden, weshalb Antonina Wyrzykowska in Yad
Vashem als eine der Gerechten unter den Völkern geehrt wird.
Und was ist mit dem Elefanten im Raum? All dies ereignete sich wenige Tage nach dem Beginn des deutschen Angriffskriegs gegen die Sowjetunion. Die Region von Jedwabne war bereits von der deutschen Front überrollt. Die Besatzungsmacht hatte gewechselt. Die Sowjets waren abgezogen; deutsche Gendarmerie, SS, Gestapo und Einsatzgruppen hatten die Herrschaft über das Gebiet übernommen.
Klar ist, dass es ohne die Anwesenheit der Deutschen nicht zu diesen Pogromen gekommen wäre. Haben die Deutschen dazu angestachelt und ermuntert, mitgeplant und mitorganisiert, die Erlaubnis gegeben oder die Polen einfach gewähren lassen? Weder Jan Gross noch Anna Bikont können dies beantworten. Bikont resümiert: „Leider wurden keine deutschen Dokumente gefunden, die es erlauben würden festzustellen, worin der deutsche Anteil bestand.“
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