Vernunft macht sich auf und davon
Thomas Stangl erhält den Sarah-Samuel-Preis für Kurzprosa.
Kurzprosa sei eine unterschätzte Gattung, meinen die Salzburger Gerlinde und Harald Niederreiter, und haben deshalb den Sarah-Samuel-Preis in der Höhe von 10.000 Euro erfunden. Er wird in diesem Jahr zum zweiten Mal vergeben, für die Abwicklung sind das Literaturarchiv Salzburg und das Grazer Literaturhaus zuständig. Unter dem Namen Sarah Samuel veröffentlicht das Ehepaar Niederreiter selbst ihre gemeinsam verfassten Bücher. Was unter Kurzprosa zu verstehen ist, ist genauer nicht definiert. Erzählende Texte von überschaubarer Länge werden ausgezeichnet, Weiteres ist wohl Verhandlungssache.
In diesem Jahr geht der Preis an Thomas Stangl für seine Erzählungen „Die Geschichte des Körpers“(Droschl-Verlag). Für diesen Autor ist Wirklichkeit längst keine ausgemachte Sache. Stangl nimmt sich Individuen vor und bemerkt nur, wie eigen sie alle sind. Alle sind mit Eigenschaften ausgestattet, die sie zu unverwechselbaren Charakteren machen. Der Mensch als angepasstes Wesen existiert für Stangl nicht. Erst als Variation des Idealtypus und als Abweichung vom Gewöhnlichen kommt ein Stangl-Individuum zu sich selbst. Deshalb die frappierenden, auch erschreckenden Seiten in einer Person, eingesponnen in ihre Privatwelt – wenn es hochkommt in ihren Wahn. Manchmal wirkt sie losgelöst aus den sozialen Zusammenhängen, ein Ich im Verlies der eigenen Obsessionen und Vorstellungen. Wie man an solche rätselhaften Wesen, die wir Menschen nennen, rankommen, ist fraglich. Es gibt allenfalls kleine Überschneidungssegmente, die wir teilen mit ihnen, der größte Teil eines Individuums ist für alle anderen Terra incognita.
Psychologie hilft uns im Fall Stangl nicht weiter, seine Literatur ist in einem hohen Maße antipsychologisch. Und das, obwohl er Innenwelten aufsucht wie kaum sonst jemand in der Gegenwartsliteratur. Er lässt alle Rätselhaftigkeiten unkommentiert stehen, als Analytiker abweichenden Verhaltens steigt er aus. Der Wachzustand, das klare Bewusstsein mit Durchblick und Sachverstand macht nur einen Teil der Identität aus. Stangl ist dann zur Stelle, wenn sich Kontrastwirklichkeiten bilden, die aus dem Unbewussten kommen, und das Somnambule sein Recht auf Dasein einfordert.
Der Band ist durchkomponiert, denn wenn schon die Logik des Unbewussten unkalkulierbar ist, so stiftet doch die Form Übersicht und Zusammenhalt. Keine Frage, Thomas Stangl ist ein würdiger Preisträger, dennoch wäre es freundlich gewesen, einen Einblick in die Shortlist zu erhalten. An ernsthaften Kandidaten mangelte es nicht.