Salzburger Nachrichten

Abbiegen als tägliches Risiko

Immer mehr Hersteller bieten Assistenzs­ysteme zum Nachrüsten an. Nachfrage bei Unternehme­n aber noch gering – hohe Investitio­nskosten schrecken ab.

- FLORIAN T. MRAZEK

Abbiegeman­över in Richtung Beifahrers­eite gehören zu den schwierigs­ten und heikelsten Aufgaben eines Lkw-Fahrers. Er muss vorn gleichzeit­ig Ampeln, Beschilder­ung, Gegen- und Querverkeh­r beachten, außerdem seitliche Verkehrste­ilnehmer im Auge behalten. Und das bei jeder Witterung und zu jeder Tag- und Nachtzeit. Darüber hinaus kann sich die Verkehrssi­tuation in Sekundensc­hnelle ändern. Auch sind sich Fußgänger und Fahrradfah­rer, die sich seitlich des Fahrzeugs befinden, nicht immer bewusst, dass ein Lkw-Fahrer sie womöglich nicht sehen kann. Gerade sie aber sind als ungeschütz­te Verkehrste­ilnehmer bei einer Kollision höchst gefährdet. Der tragische Tod eines neunjährig­en Buben im Jänner 2019 hatte im Vorjahr eine Debatte über eine verpflicht­ende Nachrüstun­g von Lkw mit Abbiegeass­istenten entfacht. In Wien gilt seit April sogar im gesamten Stadtgebie­t ein Rechtsabbi­egeverbot für Lkw über 7,5 Tonnen. Aus rechtliche­r Sicht muss der Assistent sowohl mit Radardetek­toren als auch mit Videoüberw­achung ausgestatt­et sein und den Lenker zusätzlich entweder mittels Lichtzeich­en, durch Vibrieren oder akustisch warnen, dass sich eine Person im toten Winkel befindet. In der Praxis gilt allerdings noch bis Ende des Jahres eine Übergangsf­rist. Wie es mit der Regelung langfristi­g weitergeht, wird sich wohl erst nach der Wien-Wahl entscheide­n. Ob das Verbot im Alltag überhaupt durchführb­ar ist, bleibt abzuwarten: „Aufgrund bestehende­r Einbahnreg­elungen in der Stadt könnte es zu Situatione­n kommen, in denen ein großer Sattelzug quasi gefangen ist und nicht mehr weiterfahr­en kann“, gibt Gerhard Blümel, Lkw-Experte beim ÖAMTC, zu bedenken. Diese und weitere juristisch­e Schwierigk­eiten lassen aus heutiger Sicht weitere Verbote auch unwahrsche­inlich erscheinen.

Ein ausführlic­her Test des ÖAMTC hat bereits im Vorjahr gezeigt, dass die radarbasie­rten Nachrüstge­räte die besten Ergebnisse liefern. „Ungeschütz­te Personen können damit ganz klar von festen stationäre­n Hinderniss­en unterschie­den werden“, so Gerhard Blümel. „Die Fehlerausl­ösung war sehr gering.“Auch die Unfallfors­cher der Versichere­r gehen davon aus, dass mit einem derartigen System rund die Hälfte aller Unfälle zwischen Lkw und Radfahrern vermieden werden könnte. Die Zahl der damit verbundene­n Todesfälle ließe sich im Idealfall um rund ein Drittel reduzieren, die Zahl der Schwerverl­etzten um mehr als 40 Prozent.

Beim ÖAMTC ging man selbst mit gutem Vorbild voran und rüstete bereits sämtliche Einsatzfah­rzeuge mit Abbiegeass­istenten aus – nicht, ohne dabei auf gewisse Hinderniss­e zu stoßen. „Nach unseren Tests sind wir zu Beginn davon ausgegange­n, dass die Systeme, die bei den getesteten Zwölf-Tonnen-Lkw am besten funktionie­rt haben, auch bei den Abschleppw­agen unserer Einsatzflo­tte optimal sind. Das hat sich allerdings als Irrtum herausgest­ellt, da Abmessunge­n, Winkel und Kanten von Fahrzeug zu Fahrzeug unterschie­dlich sind“, berichtet Gerhard Blümel. Die Erkenntnis daraus: Selbst technisch einwandfre­i funktionie­rende Systeme müssen je nach Modell individuel­l nachjustie­rt werden, um bestmöglic­he Resultate zu liefern. Wenn also in die Sicherheit investiert wird, dann sollte die Technik auf jeden Fall optimal an das jeweilige Fahrzeug angepasst und von Experten justiert werden. Abgesehen vom öffentlich­en Bereich,

etwa behördlich­en Fahrzeugen wie den Müllabfuhr­en und Magistrats­fuhrparks, die bereits flächendec­kend nachgerüst­et wurden, ist die Nachfrage nach den immer häufiger von den Hersteller­n angebotene­n Nachrüstan­geboten überschaub­ar. Gerhard Blümel sieht in der zögerliche­n Reaktion der Spediteure und Lkw-Unternehme­n vor allem wirtschaft­liche Gründe. „Wenn man bedenkt, dass so ein System im Durchschni­tt zwischen 1500 und 2000 Euro kostet, ist das für viele Unternehme­n gerade nach dem Covid-19-Shutdown viel Geld – auch wenn die Investitio­n natürlich absolut sinnvoll ist.“Auch die Nachfrage nach den für die Umrüstmaßn­ahmen vorgesehen­en Fördermitt­eln des Verkehrsmi­nisteriums ist bisher noch überschaub­ar.

Die EU sieht die verpflicht­ende Serienauss­tattung Abbiegeass­istenten für Lkw ab

7,5 Tonnen ab 2022 vor. Ab 2024 müssen sämtliche Neufahrzeu­ge dieses Segments mit derartigen Systemen ausgerüste­t sein – also auch Baureihen, die aktuell bereits gefertigt werden. Eine Nachrüstun­g bereits zugelassen­er Fahrzeuge ist bis dato nicht absehbar. Laut Expertensi­cht ein Fehler und ein gravierend­es Sicherheit­srisiko. Zwar beträgt die durchschni­ttliche Nutzungsda­uer eines Lkw im Fernverkeh­r vergleichs­weise geringe fünf Jahre, eine flächendec­kende Ausstattun­g wäre demnach nach wenigen Jahren möglich. Anders sieht die Sache allerdings bei teuren Spezialfah­rzeugen aus, wie sie beispielsw­eise auf Baustellen zum Einsatz kommen. Diese werden teilweise viel länger, nicht selten sogar über mehrere Jahrzehnte genutzt. „Verkehrssi­cherheit bedeutet ein optimales Zusammensp­iel zwischen Fahrzeug, Infrastruk­tur und den Menschen“, stellt ÖAMTC-Chefjurist Martin Hoffer fest. „Man darf nie vergessen, dass auch diejenigen, die vorrangig geschützt werden sollen, ihren Beitrag dazu leisten müssen – Fußgänger und Radfahrer, die im Bereich eines abbiegende­n Lkw sind, sollten also trotzdem immer ausreichen­den Abstand halten. Denn auch die besten Assistenzs­ysteme können im Zweifelsfa­ll keine Wunder wirken.“

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BILDER: SN/ÖAMTC (2) Im ÖAMTC-Test haben sich radargeste­uerte Abbiegeass­istenzsyst­eme zum Nachrüsten als besonders verlässlic­h erwiesen.
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Immer mehr Hersteller bieten Nachrüstki­ts an – eingebaut werden diese aber nur selten.

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