Abbiegen als tägliches Risiko
Immer mehr Hersteller bieten Assistenzsysteme zum Nachrüsten an. Nachfrage bei Unternehmen aber noch gering – hohe Investitionskosten schrecken ab.
Abbiegemanöver in Richtung Beifahrerseite gehören zu den schwierigsten und heikelsten Aufgaben eines Lkw-Fahrers. Er muss vorn gleichzeitig Ampeln, Beschilderung, Gegen- und Querverkehr beachten, außerdem seitliche Verkehrsteilnehmer im Auge behalten. Und das bei jeder Witterung und zu jeder Tag- und Nachtzeit. Darüber hinaus kann sich die Verkehrssituation in Sekundenschnelle ändern. Auch sind sich Fußgänger und Fahrradfahrer, die sich seitlich des Fahrzeugs befinden, nicht immer bewusst, dass ein Lkw-Fahrer sie womöglich nicht sehen kann. Gerade sie aber sind als ungeschützte Verkehrsteilnehmer bei einer Kollision höchst gefährdet. Der tragische Tod eines neunjährigen Buben im Jänner 2019 hatte im Vorjahr eine Debatte über eine verpflichtende Nachrüstung von Lkw mit Abbiegeassistenten entfacht. In Wien gilt seit April sogar im gesamten Stadtgebiet ein Rechtsabbiegeverbot für Lkw über 7,5 Tonnen. Aus rechtlicher Sicht muss der Assistent sowohl mit Radardetektoren als auch mit Videoüberwachung ausgestattet sein und den Lenker zusätzlich entweder mittels Lichtzeichen, durch Vibrieren oder akustisch warnen, dass sich eine Person im toten Winkel befindet. In der Praxis gilt allerdings noch bis Ende des Jahres eine Übergangsfrist. Wie es mit der Regelung langfristig weitergeht, wird sich wohl erst nach der Wien-Wahl entscheiden. Ob das Verbot im Alltag überhaupt durchführbar ist, bleibt abzuwarten: „Aufgrund bestehender Einbahnregelungen in der Stadt könnte es zu Situationen kommen, in denen ein großer Sattelzug quasi gefangen ist und nicht mehr weiterfahren kann“, gibt Gerhard Blümel, Lkw-Experte beim ÖAMTC, zu bedenken. Diese und weitere juristische Schwierigkeiten lassen aus heutiger Sicht weitere Verbote auch unwahrscheinlich erscheinen.
Ein ausführlicher Test des ÖAMTC hat bereits im Vorjahr gezeigt, dass die radarbasierten Nachrüstgeräte die besten Ergebnisse liefern. „Ungeschützte Personen können damit ganz klar von festen stationären Hindernissen unterschieden werden“, so Gerhard Blümel. „Die Fehlerauslösung war sehr gering.“Auch die Unfallforscher der Versicherer gehen davon aus, dass mit einem derartigen System rund die Hälfte aller Unfälle zwischen Lkw und Radfahrern vermieden werden könnte. Die Zahl der damit verbundenen Todesfälle ließe sich im Idealfall um rund ein Drittel reduzieren, die Zahl der Schwerverletzten um mehr als 40 Prozent.
Beim ÖAMTC ging man selbst mit gutem Vorbild voran und rüstete bereits sämtliche Einsatzfahrzeuge mit Abbiegeassistenten aus – nicht, ohne dabei auf gewisse Hindernisse zu stoßen. „Nach unseren Tests sind wir zu Beginn davon ausgegangen, dass die Systeme, die bei den getesteten Zwölf-Tonnen-Lkw am besten funktioniert haben, auch bei den Abschleppwagen unserer Einsatzflotte optimal sind. Das hat sich allerdings als Irrtum herausgestellt, da Abmessungen, Winkel und Kanten von Fahrzeug zu Fahrzeug unterschiedlich sind“, berichtet Gerhard Blümel. Die Erkenntnis daraus: Selbst technisch einwandfrei funktionierende Systeme müssen je nach Modell individuell nachjustiert werden, um bestmögliche Resultate zu liefern. Wenn also in die Sicherheit investiert wird, dann sollte die Technik auf jeden Fall optimal an das jeweilige Fahrzeug angepasst und von Experten justiert werden. Abgesehen vom öffentlichen Bereich,
etwa behördlichen Fahrzeugen wie den Müllabfuhren und Magistratsfuhrparks, die bereits flächendeckend nachgerüstet wurden, ist die Nachfrage nach den immer häufiger von den Herstellern angebotenen Nachrüstangeboten überschaubar. Gerhard Blümel sieht in der zögerlichen Reaktion der Spediteure und Lkw-Unternehmen vor allem wirtschaftliche Gründe. „Wenn man bedenkt, dass so ein System im Durchschnitt zwischen 1500 und 2000 Euro kostet, ist das für viele Unternehmen gerade nach dem Covid-19-Shutdown viel Geld – auch wenn die Investition natürlich absolut sinnvoll ist.“Auch die Nachfrage nach den für die Umrüstmaßnahmen vorgesehenen Fördermitteln des Verkehrsministeriums ist bisher noch überschaubar.
Die EU sieht die verpflichtende Serienausstattung Abbiegeassistenten für Lkw ab
7,5 Tonnen ab 2022 vor. Ab 2024 müssen sämtliche Neufahrzeuge dieses Segments mit derartigen Systemen ausgerüstet sein – also auch Baureihen, die aktuell bereits gefertigt werden. Eine Nachrüstung bereits zugelassener Fahrzeuge ist bis dato nicht absehbar. Laut Expertensicht ein Fehler und ein gravierendes Sicherheitsrisiko. Zwar beträgt die durchschnittliche Nutzungsdauer eines Lkw im Fernverkehr vergleichsweise geringe fünf Jahre, eine flächendeckende Ausstattung wäre demnach nach wenigen Jahren möglich. Anders sieht die Sache allerdings bei teuren Spezialfahrzeugen aus, wie sie beispielsweise auf Baustellen zum Einsatz kommen. Diese werden teilweise viel länger, nicht selten sogar über mehrere Jahrzehnte genutzt. „Verkehrssicherheit bedeutet ein optimales Zusammenspiel zwischen Fahrzeug, Infrastruktur und den Menschen“, stellt ÖAMTC-Chefjurist Martin Hoffer fest. „Man darf nie vergessen, dass auch diejenigen, die vorrangig geschützt werden sollen, ihren Beitrag dazu leisten müssen – Fußgänger und Radfahrer, die im Bereich eines abbiegenden Lkw sind, sollten also trotzdem immer ausreichenden Abstand halten. Denn auch die besten Assistenzsysteme können im Zweifelsfall keine Wunder wirken.“