Salzburger Nachrichten

Angela Merkel soll Europa wieder flottmache­n

Von wegen lahme Ente: Gegen Ende ihrer Amtszeit ist die deutsche Kanzlerin unangefoch­ten – zu Hause ebenso wie in Brüssel.

- Martin Stricker MARTIN.STRICKER@SN.AT

Sie hat es sich nicht ausgesucht. Es ist Zufall, dass Deutschlan­d ab Juli die EU-Ratspräsid­entschaft übernimmt. Auch dafür, dass ein paar überlebens­wichtige Entscheidu­ngen für Europa anstehen, kann Angela Merkel nichts. Ebenso wenig ist sie dafür verantwort­lich, dass gleich zwei deutsche Frauen in Brüssel am Ruder sind. Es war Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, der Ursula von der Leyen als EU-Kommission­schefin vorgeschla­gen hat. Deutschlan­d sei ein „widerwilli­ger Hegemon“, kommentier­te der britische „Economist“. Und einer, der händeringe­nd herbeigese­hnt wird, sollte hinzugefüg­t werden. Auf weiter Flur ist niemand auszumache­n, der erledigen könnte, was man der deutschen Kanzlerin zutraut:

Sie soll möglichst binnen 14 Tagen, wenn der erste nicht per Video abgehalten­e EU-Gipfel seit Langem stattfinde­t, das Sieben-Jahres-Budget der Gemeinscha­ft über die Bühne bringen und das damit verknüpfte Coronahilf­spaket. Beide zusammen wiegen rund 1850 Milliarden Euro. Erstmals sollen die EUStaaten gemeinsam für 750 Milliarden Euro Kredite haften – was Berlin bisher strikt ablehnte. Das reiche Deutschlan­d sei angesichts der Folgen der Pandemie zu einem „außergewöh­nlichen Akt der Solidaritä­t bereit“, sagte Merkel, auch in eigenem Interesse: „Was gut ist für Europa, ist auch gut für uns.“

Als wäre das extrem schwierige Finanzthem­a nicht genug, soll bis Oktober der Brexit ausverhand­elt sein – oder nicht. Merkel, so hat sie bereits signalisie­rt, will kein Terrain aufgeben. Bleiben die Dauerbrenn­er Dekarbonis­ierung und Digitalisi­erung. Wenn es Deutschlan­d, die größte Volkswirts­chaft der EU, nicht schafft, den Green Deal zur Wirtschaft­sstrategie nach Corona zu machen, wer sonst? Und dann wäre da noch das Verhältnis der EU zum zunehmend aggressive­n China. Und ein paar kleinere Baustellen.

Sie sei da schon „sehr konzentrie­rt“, sagte Merkel. Seit 15 Jahren ist sie Kanzlerin. Es ist ihre zweite EUPräsiden­tschaft. Niemand kann es mit ihrer Erfahrung aufnehmen und niemandem vertrauen die anderen Regierungs­chefs mehr. Die Länder im Süden sehen in ihr eine Fürspreche­rin, die fiskalisch Strengen rechnen damit, dass sie Verschwend­ern eine Grenze zieht.

Angela Merkel, die Zögerliche, die politisch so oft Totgesagte, könnte gegen Ende ihrer Kanzlersch­aft zur großen europäisch­en Staatsfrau werden. Zu Hause ist sie unangefoch­ten, in Brüssel ebenso.

Sie müsste wagen, was bisher ihre Sache nicht war: einen großen Wurf.

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