Angela Merkel soll Europa wieder flottmachen
Von wegen lahme Ente: Gegen Ende ihrer Amtszeit ist die deutsche Kanzlerin unangefochten – zu Hause ebenso wie in Brüssel.
Sie hat es sich nicht ausgesucht. Es ist Zufall, dass Deutschland ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Auch dafür, dass ein paar überlebenswichtige Entscheidungen für Europa anstehen, kann Angela Merkel nichts. Ebenso wenig ist sie dafür verantwortlich, dass gleich zwei deutsche Frauen in Brüssel am Ruder sind. Es war Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin vorgeschlagen hat. Deutschland sei ein „widerwilliger Hegemon“, kommentierte der britische „Economist“. Und einer, der händeringend herbeigesehnt wird, sollte hinzugefügt werden. Auf weiter Flur ist niemand auszumachen, der erledigen könnte, was man der deutschen Kanzlerin zutraut:
Sie soll möglichst binnen 14 Tagen, wenn der erste nicht per Video abgehaltene EU-Gipfel seit Langem stattfindet, das Sieben-Jahres-Budget der Gemeinschaft über die Bühne bringen und das damit verknüpfte Coronahilfspaket. Beide zusammen wiegen rund 1850 Milliarden Euro. Erstmals sollen die EUStaaten gemeinsam für 750 Milliarden Euro Kredite haften – was Berlin bisher strikt ablehnte. Das reiche Deutschland sei angesichts der Folgen der Pandemie zu einem „außergewöhnlichen Akt der Solidarität bereit“, sagte Merkel, auch in eigenem Interesse: „Was gut ist für Europa, ist auch gut für uns.“
Als wäre das extrem schwierige Finanzthema nicht genug, soll bis Oktober der Brexit ausverhandelt sein – oder nicht. Merkel, so hat sie bereits signalisiert, will kein Terrain aufgeben. Bleiben die Dauerbrenner Dekarbonisierung und Digitalisierung. Wenn es Deutschland, die größte Volkswirtschaft der EU, nicht schafft, den Green Deal zur Wirtschaftsstrategie nach Corona zu machen, wer sonst? Und dann wäre da noch das Verhältnis der EU zum zunehmend aggressiven China. Und ein paar kleinere Baustellen.
Sie sei da schon „sehr konzentriert“, sagte Merkel. Seit 15 Jahren ist sie Kanzlerin. Es ist ihre zweite EUPräsidentschaft. Niemand kann es mit ihrer Erfahrung aufnehmen und niemandem vertrauen die anderen Regierungschefs mehr. Die Länder im Süden sehen in ihr eine Fürsprecherin, die fiskalisch Strengen rechnen damit, dass sie Verschwendern eine Grenze zieht.
Angela Merkel, die Zögerliche, die politisch so oft Totgesagte, könnte gegen Ende ihrer Kanzlerschaft zur großen europäischen Staatsfrau werden. Zu Hause ist sie unangefochten, in Brüssel ebenso.
Sie müsste wagen, was bisher ihre Sache nicht war: einen großen Wurf.