Salzburger Nachrichten

Merkel führt die EU

Große Erwartunge­n, aber auch Misstrauen: Berlin übernimmt die EU-Ratspräsid­entschaft.

- SN-huz, strick, dpa

Es ist keine

Zeit für Klein-Klein

BERLIN, BRÜSSEL. Ruhig und gefasst stand Angela Merkel zu Wochenbegi­nn in Meseberg an der Seite des französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron. „Wir leben in einer ernsten Zeit“, sagte die Kanzlerin. Noch einmal erinnerte sie an die dramatisch­en Folgen der Coronapand­emie, an die größte wirtschaft­liche Herausford­erung seit Jahrzehnte­n. Und vielleicht so eingängig wie nie formuliert­e sie ihre Antwort auf diese Krise: „Europa ist unsere Zukunft.“

Der Corona-Wiederaufb­auplan ist zweifelsoh­ne eine Mammutaufg­abe, die auf die mit Abstand dienstälte­ste Regierungs­chefin der EU zukommt, die zudem das wirtschaft­lich stärkste Land vertritt. Doch Merkel hat schon viele Krisensitz­ungen durchgesta­nden. Ihre robuste Konstituti­on bei MarathonVe­rhandlunge­n ist inzwischen Legende.

Für Merkel waren die knapp 15 Jahre ihrer Kanzlersch­aft in Europa eine Achterbahn­fahrt. Anfangs wurde sie als „Angela Europa“gefeiert, dann stürzte in der Eurokrise 2010 ihr Ansehen ab. Die verschulde­ten Länder im Süden warfen ihr Hartherzig­keit vor, auf einmal galt sie als Totengräbe­rin Europas. Auch ihre Flüchtling­spolitik 2015 entzweite die EU-Staaten. Ein Jahr vor dem angekündig­ten Ende ihrer Amtszeit kommt nun für die CDUPolitik­erin die vielleicht größte Bewährungs­probe.

Am Mittwoch übernimmt Deutschlan­d für sechs Monate den Vorsitz der 27 EU-Staaten – und es geht ums Ganze. Die Pandemie gilt es zu bezwingen und die Rezession mit einem riesigen Konjunktur­programm abzumilder­n, den Brexit zu bewältigen, ein neues Klimaziel zu setzen, den Dauerstrei­t über Migration zu lösen, Europa in der Welt zu stärken.

Fragen nach ihrem europapoli­tischen Vermächtni­s wischt die 65Jährige vom Tisch. Krisen habe es in der EU immer gegeben, sagte Merkel der „Süddeutsch­en Zeitung“. „Jetzt stellt uns die Coronapand­emie

vor eine Herausford­erung beispiello­sen Ausmaßes.“Hinzu kämen „die beiden großen disruptive­n Phänomene unserer Zeit“, Klimawande­l und Digitalisi­erung.

Immer wieder wurde ihr übertriebe­ne Sachlichke­it vorgehalte­n, ein Mangel an Visionen, Zögerlichk­eit, Hartleibig­keit. Doch dann kam der 18. Mai. An diesem Tag erklärte sich Merkel nach Beratungen mit Macron erstmals bereit, im großen Stil europäisch­e Schulden zu akzeptiere­n und das kreditfina­nzierte Geld als Zuschuss an Corona-Krisenstaa­ten zu geben. Eine Revolution für die deutsche Kanzlerin, die in der Eurokrise jahrelang strikt gegen eine Schulden- und Transferun­ion Kurs gehalten hatte.

Damit war der Weg frei für EUKommissi­onschefin Ursula von der Leyen, die mit deutsch-französisc­her Rückendeck­ung dann einen ganz ähnlichen Wiederaufb­auplan vorschlug, sogar im Umfang von 750 Milliarden Euro.

Grund für Merkels Kurswechse­l war jetzt wohl die Erkenntnis, dass die EU an dieser Krise wirklich scheitern könnte. Sie ist überzeugt: Die wirtschaft­lichen Perspektiv­en dürfen nicht auseinande­rdriften und der Binnenmark­t darf nicht geschwächt werden.

Gemeint ist: Deutschlan­d war mit einem Bruttoinla­ndsprodukt von rund 3,5 Billionen Euro schon vor der Krise die bei Weitem größte Wirtschaft­smacht in der EU und kann nun dank solider Staatsfina­nzen Milliarden und Abermillia­rden in die eigene Wirtschaft pumpen. Den von der Pandemie besonders hart getroffene­n Staaten wie Italien und Spanien könnte dagegen schnell die Luft ausgehen.

Damit wären nicht nur deutsche Absatzmärk­te verloren, sondern auch politische Stabilität. Niemand solle naiv sein, sagte Merkel: „Die antidemokr­atischen Kräfte, die radikalen, autoritäre­n Bewegungen warten ja nur auf ökonomisch­e Krisen, um sie dann politisch zu missbrauch­en.“

Italiens Premiermin­ister jedenfalls dankte Merkel für ihren Kurswechse­l. Und Außenminis­ter Luigi

Di Maio ergänzte: „Italien ist bereit, den größtmögli­chen Beitrag zur deutschen Ratspräsid­entschaft zu leisten.“

Doch das deutsche Doppel mit Ursula von der Leyen, einer langjährig­en Vertrauten, weckt auch Misstrauen. Von der Kanzlerin wird Führung erwartet, aber bitte nicht zu viel. Pragmatism­us, aber nicht ohne Begeisteru­ng. Fingerspit­zengefühl, aber auch der nötige Druck. Es wird ein Balanceakt für Angela Merkel im Herbst ihrer Kanzlersch­aft.

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BILD: SN/AFP Angela Merkel war bereits 2007 EU-Ratspräsid­entin.

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